Antisemitismusdefinition als politisches Bekenntnis

Ich überblicke nicht, welche parteiinternen Dynamiken Die Linke dazu bewegt haben, sich offiziell gegen Antisemitismusdefinition der IHRA und für die der Jerusalem Declaration zu entscheiden. Aber so viel sei gesagt:

Die „IHRA-Definition“ ist als Antisemitismusdefinition schlicht ungeeignet. Eine Definition darf nicht Worte wie „eine bestimmte“ enthalten, wenn dann keine *Bestimmung* folgt. Also ja, man kann sagen: „Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Jüdinnen und Juden, die sich als Hass gegenüber Jüdinnen und Juden ausdrücken kann.“ Aber eine Definition wäre das nur, wenn dann Kriterien folgen würden, anhand derer man entscheiden könnte, ob eine zur Diskussion stehende „Wahrnehmung“ eine „bestimmte“ im Sinne der Definition ist. Solche Kriterien folgen aber nicht, sondern nur unsystematische Beispiele.

Die Jerusalem Declaration ist auf dieser formalen Ebene deutlich besser. Sie enthält in der Tat eine Definition von Antisemitismus (nicht unbedingt meine, aber eine). Antisemitismus wird hier definiert als „Diskriminierung, Vorurteil, Feindseligkeit oder Gewalt gegen Jüdinnen und Juden als Jüdinnen und Juden (oder jüdische Einrichtungen als jüdische)“. Auch das lässt freilich Fragen offen — nämlich nach der Definition von Diskriminierung usw. Aber dabei handelt es sich eben um definierbare Begriffe und nicht um vage Worte wie „bestimmte“. Allerdings wird auch die Jerusalem Declaration absurd schlecht, wenn es am Ende lapidar heißt: „Boykott, Desinvestition und Sanktionen sind gängige, gewaltfreie Formen des politischen Protests gegen Staaten. Im Falle Israels sind sie nicht per se antisemitisch.“ Das ist wahrscheinlich das Ergebnis anstrengender Kompromissverhandlungen. Der Satz ist „an sich“ nicht falsch (je nachdem, wie man „Gewalt“ definiert). Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen gegen Israel müssen nicht in jedem denkbaren Falle antisemitisch sein, sind es also nicht „an sich“. Aber eine Antisemitismuserklärung, der zu BDS nichts anderes einfällt, als zu sagen, dass die BDS-Methoden „an sich nicht antisemitisch“ sind, ist intellektuell und politisch ebenfalls gescheitert. Zum einen lädt sie sehr offensiv dazu ein, als pauschale Deproblematisierung von BDS gelesen zu werden. (Natürlich kann man immer sagen, dass es ja keine pauschale Deproblematisierung ist, aber wenn man nur die teilweise Negation der Problematisierung formuliert, ohne auf Probleme zu verweisen, darf man sich nicht beschweren.) Zum anderen weicht sie der Frage aus, unter welchen Bedingungen BDS „für sich“ dann oftmals doch antisemitisch ist.

Angesichts dieser Probleme beider „Definitionen“ kann es nicht überraschen, dass sie in der deutschen Öffentlichkeit heute in erster Linie politische Bekenntnisse sind. Gerade, weil sie das sind, wäre es für eine politische Partei womöglich klüger, kein Bekenntnis abzulegen, von dem sie wissen muss, dass sie damit viele (und insbesondere viele Jüd:innen und jüdische Organisationen) vor den Kopf stößt. Man könnte es ja einfach lassen. Wer keine Hausarbeit über Antisemitismus schreibt, muss sich nicht zwingend zu einer Antisemitismusdefinition bekennen.

„Wir sind von der Sache alle ziemlich angenervt, oder? Also schlage ich vor, wir sollten versuchen, wenigstens ein bisschen Würde zu bewahren“. 14 Thesen zur Debatte um „Cancel Culture“

Am 21. März 2024 hielt ich im Tübinger Epplehaus einen Vortrag über die „Cancel Culture“-Debatte. Im Folgenden dokumentiere ich das Manuskript.

„Wir sind von der Sache alle ziemlich angenervt, oder? Also schlage ich vor, wir sollten versuchen, wenigstens ein bisschen Würde zu bewahren.“ Dieses Zitat aus dem Film „Die üblichen Verdächtigen“ (das ich vor allem als Intro des „…but alive“-Songs „Pete“ kenne) geht mir oft durch den Kopf, wenn ich an die Debatten um Cancel Culture und die damit in Verbindung stehenden Kulturkämpfe denke. Denn ich kenne wirklich niemanden, der mit den Dynamiken dieser Debatten zufrieden wäre – wir sind von der Sache alle ziemlich angenervt. Allerdings sind wir alle auf verschiedene Weise angenervt und ich sehe nicht, wie man das auflösen könnte. Daher ist es wohl das Beste, wenn wir versuchen, wenigstens ein bisschen Würde zu bewahren.

Würdelos erscheint es mir vor allem, der Versuchung nachzugeben, sich mit Inbrunst und gezücktem Messer ins Handgemenge zu stürzen, um denen, die man von Anfang an als „Gegenseite“ identifiziert, so hart wie möglich zuzusetzen und denen, die man der „eigenen Seite“ zuordnet, den Rücken freizuhalten. Diese Versuchung ist in Kulturkämpfen immer groß, aber man sollte sich Mühe geben, ihr zu widerstehen – zumindest, wenn man versuchen will, ein bisschen Würde zu bewahren.

Ich will mir im Folgenden Mühe geben. Allerdings soll hier nicht der Anschein entstehen, ich spräche aus der perfekt ausbalanciert-neutralen Position. Ich komme in diesem Kulturkampf durchaus von einer Seite, nämlich von derjenigen, die der Diagnose einer linken Cancel Culture sehr skeptisch gegenübersteht. Allerdings will ich mir eben Mühe geben, da, wo es nötig scheint, auch meine „eigene Seite“ zu kritisieren und an anderen Stellen mit allem gebotenen Widerwillen der „anderen Seite“ Recht zu geben.

Dabei möchte ich anmerken, dass ich zwar ein Wissenschaftler bin, der sich in seiner Arbeit mit verwandten Themen beschäftigt, dies aber kein wissenschaftlicher Vortrag ist. Zudem ist die Argumentation nur halbwegs strukturiert und besteht aus 14 nicht immer aufeinander aufbauenden Thesen, die ich jeweils kurz kommentiere. 14 ist keine sehr schöne Zahl, aber 10 oder 12 reichten nicht ganz und 81 weitere wollten mir auch nicht einfallen.

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Der Krieg in Gaza, das Völkerrecht und der Antisemitismusvorwurf

In meinen bisherigen Texten zum Massaker vom 7. Oktober und dem anschließenden Krieg in Gaza schrieb ich jeweils, dass man sich für das Leid der palästinensischen Bevölkerung nicht kalt machen dürfe und Israel das Völkerrecht einhalten müsse. Damit das keine hohle Geste bleibt, sollte es mal etwas konkretisiert werden.

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Fünf Ergänzungen zum Gespräch über postkoloniale Theorie und die linken Reaktionen auf das Massaker vom 7. Oktober

Letzte Woche sprachen Catherine Newmark, Daniel James und ich für Sein und Streit auf Deutschlandfunk Kultur über postkoloniale Theorie und die linken Reaktionen auf das Massaker vom 7. Oktober – hier nachzuhören. Ich war sehr froh über die Gesprächspartner:innen und die Gelegenheit zum gemeinsamen öffentlichen Nachdenken.

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10 Punkte zur Debatte um das Massaker vom 7. Oktober 2023

1. Die Verbrechen, die die Hamas am 7. Oktober begangen hat, waren ein Massaker, das in Ausmaß und Brutalität auch innerhalb dieses Konfliktes alles in den Schatten stellt, was seit dem Massaker von Sabra und Schatila 1982 passiert ist. Wer das nicht ohne Relativierung anerkennen kann, sollte sich zum Thema einfach nicht äußern.

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„Wessen und wie gedenkt die Antisemitismuskritik?“

Auf der 14. Blickwinkel-Tagung in Hamburg am 19. und 20. Juni 2023 hielt ich eine Keynote zum Thema „Wessen und wie gedenkt die Antisemitismuskritik?“, deren leicht überarbeitetes Manuskript im Folgenden dokumentiert ist.

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Nun endlich das, worauf niemand gewartet hat, meine Eindrücke von der Documenta 15

Kurz vor ihrem Ende habe auch ich es zur Documenta 15 geschafft und gebe hier meine Eindrücke als politisch und kulturtheoretisch interessierter trotziger Banause mit Klassenressentiments zum Besten:

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Rechter Ideologe und schlechter Soziologe. Alexander Gaulands Rede über Populismus und Demokratie gelesen als Theorie, Ideologie und politische Herausforderung

Im Oktober 2018 erregte Alexander Gauland mit einem in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung veröffentlichten Aufsatz über Populismus einige Aufmerksamkeit – insbesondere, weil bald das Gerücht die Runde machte, er habe darin eine Rede Adolf Hitlers plagiiert. Dieser Verdacht ging vor allem auf eine starke Ähnlichkeit in der Argumentationsstruktur zurück: In beiden Texten wurden in durchaus ähnlichen Formulierungen örtlich verwurzelte Teile des Volkes gegen eine wurzel- und ortlose Minderheit ausgespielt, die überall und nirgends zu Hause sei. Weil sich solche Figurationen seit Jahrhunderten bei diversen rechten und konservativen Ideolog_innen finden, lässt sich auf dieser Basis freilich kein Plagiatsvorwurf aufrechterhalten – darüber, ob Gauland Hitler bewusst paraphrasierte oder ob es sich bei den Ähnlichkeiten um ein eher zufälliges Produkt handelt, das auf ideologischen Parallelen beruht, lässt sich nur spekulieren. Analoges gilt für die gut 40-minütige Rede, die Gauland am 19. Januar beim neurechten Institut für Staatspolitik in Schnellroda hielt und in der er die Argumentation aus dem faz-Artikel weiter ausbreitet.

Wenn man sich aber auf solche Argumente ad hitlerem begrenzt, übersieht man viele instruktive Aspekte von Gaulands Beiträgen. Daher schlage ich im Folgenden vor, seine Rede auf drei Weisen zu lesen: erstens als schlechte Soziologie und Politikwissenschaft, die zu widerlegen ist; zweitens als rechte Ideologie, die als solche auszuweisen ist; und drittens als strategische Herausforderung, auf die zu reagieren ist.

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Ich sehe was, was Du nicht siehst! Über das Verhältnis von Rassismuskritik und Antisemitismuskritik. Teil II: Der jeweilige Blick auf Rassismus und Antisemitismus

In diesem zweiten Teil meiner Vortragsverschriftlichung geht es darum, was Antisemitismuskritik und Rassismuskritik jeweils unter Antisemitismus und Rassismus verstehen – und inwiefern man von beiden etwas über beides lernen sollte.

(Anmerkung: Ich bin nie dazu gekommen, den hier versprochenen dritten Teil für den Blog aufzubereiten. Der komplette Text findet sich in unterschiedlichen Versionen in diesem Peripherie-Artikel sowie in meinem Beitrag zum Sammelband Beißreflexe.)

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Der schlechte Witz und seine Beziehung zum Antisemitismus

Die am häufigsten misslingenden Witze sind „ironische“ Späße über Sexismus, Rassismus, Antisemitismus, Homophobie usw., bei denen der Humor dadurch entstehen soll, dass sexistische, rassistische, antisemitische, homophobe usw. Klischees reproduziert werden, obwohl es ja „gar nicht so gemeint“ ist. Ein Mann, der seinen Kolleginnen mitteilt, sie seien vielleicht doch am Herd besser aufgehoben; eine Weiße, die einen schwarzen Kollegen mit dem N-Wort bezeichnet; eine Hete, die „igittigitt“ sagt, wenn ein schwules Paar sich küsst – oder eben ein nichtjüdischer Comedian, der das Desinfektionsmittel herausholt, nachdem er einem jüdischen Comedian „zu nahe“ kam. Lustig.

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