Der Krieg in Gaza, das Völkerrecht und der Antisemitismusvorwurf

In meinen bisherigen Texten zum Massaker vom 7. Oktober und dem anschließenden Krieg in Gaza schrieb ich jeweils, dass man sich für das Leid der palästinensischen Bevölkerung nicht kalt machen dürfe und Israel das Völkerrecht einhalten müsse. Damit das keine hohle Geste bleibt, sollte es mal etwas konkretisiert werden.

Der Minimalstandard zur Bewertung von Gewalt in bewaffneten Konflikten ist das Völkerrecht. Freilich sollte man als Lai:in aus mehreren Tausend Kilometern Entfernung nicht allzu selbstbewusst behaupten zu wissen, wo genau welcher Verstoß vorliegt – das Völkerrecht lässt in vielen Punkten erheblichen Auslegungsspielraum, die Informationen sind meist unvollständig oder widersprüchlich und man ist Lai:in. Allerdings sollte man sich davon auch nicht dumm machen lassen oder grundlegend schweigen, weil man alles nicht so genau weiß. Kritische Öffentlichkeit soll nach bestem Wissen und Gewissen urteilen. Dabei sind völkerrechtliche Normen ein guter Ansatzpunkt für normative Mindeststandards.

Auch wenn man davon ausgeht, dass Israel nach dem Massaker vom 7. Oktober berechtigt ist, Krieg gegen die Hamas zu führen, um die von dieser ausgehende Bedrohung für die eigene Bevölkerung zu beenden (woran es von einigen Völkerrechtler:innen Zweifel gibt), ist unbestritten, dass Israel sich in der Kriegsführung völkerrechtliche Regeln halten muss.

Legt man die Regeln der Kriegsführung an und nimmt die öffentlich verfügbaren Informationen zur Grundlage, gibt es gute Gründe für laute und scharfe Kritik an Israels vorgehen.

1. In Gaza herrscht nach übereinstimmenden Berichten massive Unterversorgung mit Nahrungsmitteln, medizinischen Gütern, Treibstoff usw., weil seit dem 7. Oktober sehr viel weniger Hilfslieferungen ankommen als nötig. Auch wenn Gaza sowohl an Israel als auch an Ägypten grenzt, scheint dies vor allem in Israels Verantwortung zu liegen. Zum einen bestehen Zweifel, ob über den einzigen ägyptisch-palästinensischen Grenzübergang bei Rafah allein überhaupt genug Lieferungen kommen könnten, woraus sich für Israel die Pflicht ergeben würde, auch Hilfslieferungen über die eigenen Grenzübergänge zuzulassen. Zum anderen wird die Zahl der Lieferungen durch Rafah zusätzlich dadurch eingeschränkt, dass Israel Lieferungen zuerst inspizieren will und dies nur langsam tut. Das Abschneiden der Zivilbevölkerung von lebensnotwendigen Hilfslieferungen wäre ein Völkerrechtsverstoß. Selbst wenn man damit rechnen muss, dass auch die Hamas von den Lieferungen profitiert (was insbesondere beim Treibstoff militärisch relevant ist), ist das Völkerrecht relativ eindeutig (und die Moral erst recht): Man darf einige zehntausend Kämpfer:innen nicht gemeinsam mit zwei Millionen Zivilist:innen aushungern – und auch Treibstoff ist für die Versorgung der Zivilbevölkerung mit dem Notwendigsten nötig. Israel hat sich hier seit dem Anfang des Krieges zwar bewegt – wohl auch auf internationalen Druck. Die Totalblockade der ersten Tage wurde aufgehoben und die Lieferungen haben deutlich zugenommen. Aber fast alle vor Ort sagen: too little, too late.

2. In einem solchen Krieg werden immer auch Zivilist:innen sterben und leiden – schon gar in so einem dicht bevölkerten Gebiet, schon gar wenn eine Kriegspartei in völkerrechtswidriger Weise militärische Ziele systematisch in einem zivilen Umfeld platziert, wie die Hamas es tut. Man sollte es nicht als Phrase dahersagen, sondern ernst meinen, innehalten und reflektieren, was es bedeutet: Dass Zivilist:innen sterben, verletzt werden, vertrieben werden, ihre Wohnung verlieren und in Angst und Schrecken leben, ist schrecklich. Wenn man diesen Satz sagt, sollte man ihn so sagen und meinen, als gehe es bei diesen abstrakten Zivilist:innen konkret um die Menschen, die einem am liebsten sind. Und dann sollte man sich bewusst sein, was der folgende Satz bedeutet: Völkerrechtswidrig ist dieses Sterben und Leiden von Zivilist:innen an sich nicht. Jedoch ist jede Kriegspartei verpflichtet, bei jeder Entscheidung eine Abwägung zu treffen, ob der zu erwartende militärische Vorteil in einem angemessenen Verhältnis zu dem zu befürchtenden zivilen Schaden steht. Hier gibt es deutliche Hinweise darauf, dass Israels Militär bei dieser Verhältnismäßigkeitsprüfung teils in mehr als fragwürdiger Weise abwägt und bereit ist, bei der Tötung eines Hamas-Anführers (legitimes militärisches Ziel) eine hohe zweistellige oder gar dreistellige Zahlen ziviler Opfer in Kauf zu nehmen (das wurde ausführlich am Beispiel der Bombardierung von Jabalia am 31. Oktober diskutiert). Das Völkerrecht ist nicht sehr eindeutig darin, wo die Grenze des Rechtmäßigen verläuft. Aber wenn es Grund zur Annahme gibt, dass die Maßstäbe der Verhältnismäßigkeit so ausgelegt werden, ist scharfe Kritik legitim.

3. Ein lang anhaltender Völkerrechtsverstoß ist die Siedlungspolitik in der West Bank und der staatliche Umgang mit der Gewalt von dortigen Siedler:innen, die seit dem 7. Oktober deutlich zugenommen zu haben scheint. Dafür trägt die israelische Regierung Verantwortung.

4. Hinzu kommen zahlreiche Berichte über das Handeln auf unterer Ebene im israelischen Militär, in die sich die gestrige Nachricht über die Tötung dreier israelischer Geiseln durch israelische Soldaten nahtlos einreiht. Wenn Personen erschossen werden, die eine weiße Fahne tragen, ist das völkerrechtswidrig. Freilich kann es sich dabei auch jeweils um tragische Fehlentscheidungen einzelner Soldat:innen in unübersichtlichen Situationen handeln. Freilich wird die Situation besonders unübersichtlich, wenn die Hamas das israelische Militär in völkerrechtlich illegaler Weise in Zivilkleidung angreift – das ist dokumentiert. Jedoch ist die Zahl entsprechender Berichte so groß, dass man nach strukturellen Ursachen in den zugrundeliegenden institutionellen Routinen fragen muss.

5. In der israelischen Regierung gibt es Stimmen, die Handlungen einfordern, bei denen es sich nicht nur um Völkerrechtsverstöße, sondern um Verbrechen gegen die Menschheit/Menschlichkeit handeln würde, nämlich um das, was gemeinhin als ethnische Säuberung bezeichnet wird. Wenn solche Ideologie an so prominenter Stelle artikuliert wird, gibt es umso mehr Grund, sehr genau und kritisch auf das Handeln des entsprechenden Staates zu schauen.

Eine häufige Fehlkonzeption in der Thematisierung von Völkerrechtsverstößen und Völkerrechtsverbrechen besteht in der Annahme, dass diese allgemein von bösen, durch schieren Hass auf andere getriebenen Menschen begangen würden. Diese Fehlkonzeption findet sich sowohl bei „Ankläger:innen“ als auch bei „Verteidiger:innen“. Solche Bösartigkeit gibt es. Aber oft werden Verbrechen aus ganz anderen Motiven begangen: aus der Überzeugung das Gute und Richtige für die eigene Gruppe zu tun, aus der Überzeugung, das Unangenehme, aber Notwendige zu tun („Wo gehobelt wird, da fallen Späne“), aus Rache, aus Pflichtgefühl oder aus Achtlosigkeit.

((Randbemerkung: Adolf Eichmann war entgegen Arendts von Gessen unkritisch wiederholten Behauptungen ziemlich wahrscheinlich niemand, der das Böse aus banalen Gründen tat. Aber das heißt nicht, dass es das nicht gäbe.))

Daher ist die Benennung solcher Probleme keine Dämonisierung oder Delegitimierung Israels sondern in einer demokratischen Öffentlichkeit wünschenswerte Kritik – *insbesondere*, aber nicht nur für diejenigen, die Israels Kriegsführung insgesamt unterstützen, rechtfertigen oder gutheißen. Die Benennung der genannten Probleme ist auch keine Anwendung von Doppelstandards, sondern von Mindeststandards, die auch auf die Bundeswehr, die Streitkräfte Russlands und der Ukraine sowie die Hamas angewendet werden.

Wenn es gute Gründe gibt, israelische Völkerrechtsverstöße für wahrscheinlich zu halten und die Kritik solcher Verstöße in einer demokratischen Öffentlichkeit nicht nur legitim, sondern wünschenswert ist, muss sich das freilich auch in der Bewertung des öffentlichen Diskurses über den Krieg widerspiegeln. Für die Benennung und Kritik solcher wahrscheinlicher Verstöße, bei denen man auch  moralisch empört sein und zuspitzen darf, sollte niemand Antisemitismusvorwürfe bekommen. Dies gilt zumindest solange, wie er:sie auch die Verstöße der Hamas glaubhaft verurteilt – sonst setzt er:sie sich zu Recht dem Verdacht aus, Verbrechen gar nicht so schlimm zu finden, solange sie sich gegen Israel richten. Allerdings muss ich auch sagen: Ich sehe nicht, dass solche Benennung und Verurteilung israelischen Vorgehens zu folgenreichen Antisemitismusvorwürfen führen würde.

Bei dieser Benennung muss es freilich Grenzen geben. Das sind zunächst Grenzen dessen, was sachlich angemessen ist. Der Vorwurf des Genozids ist das meines Erachtens nicht; auch bei einem weiten Genozidbegriff ist das eine rhetorische Überspitzung, die nichts hilft. (Die Unstimmigkeit in dieser Frage dürfte in Teilen darauf zurückzuführen sein, dass man im deutschen Alltagsgebrauch gewohnt ist, den Genozidbegriff eher enger auszulegen, als das Völkerrecht es tut, während er im englischen Alltagsgebrauch oft eher weiter ausgelegt wird.) Danach kommen Grenzen, bei denen Aussagen nicht nur aufhören, sachlich angemessen zu sein, sondern auch moralisch inakzeptabel werden. Überschritten werden diese moralischen Akzeptabilitätsgrenzen zum Beispiel mit der Analogisierung zum Nationalsozialismus. Erst recht jenseits dieser Akzepabilitätsgrenzen sind die jüngst bei Kundgebungen an Hochschulen zu hörenden Aussagen, Israel habe kein Existenzrecht (an der Freien Universität Berlin) oder es habe am 7. Oktober keine Aggression gegen Israel gegeben (an der Universität für angewandte Kunst Wien). Wer so etwas sagt, sollte sich über scharfe Kritik oder Antisemitismusvorwürfe nicht beklagen.

Hinweis:
Zwei Stellen wurden leicht editiert.
1. Der Absatz zum israelischen Selbstverteidigungsrecht.
2. Der Einschub in Klammern zum Genozidbegriff.