Fünf Ergänzungen zum Gespräch postkoloniale Theorie und die linken Reaktionen auf das Massaker vom 7. Oktober

Letzte Woche sprachen Catherine Newmark, Daniel James und ich für Sein und Streit auf Deutschlandfunk Kultur über postkoloniale Theorie und die linken Reaktionen auf das Massaker vom 7. Oktober – hier nachzuhören. Ich war sehr froh über die Gesprächspartner:innen und die Gelegenheit zum gemeinsamen öffentlichen Nachdenken.

Allerdings fielen mir im Nachhinein ein paar Dinge ein, die ich auch gerne noch gesagt hätte und die ich hier kurz nachtragen möchte. Erstens scheint es mir wichtig, noch einmal zu klären, welche Probleme in linken Reaktionen überhaupt es überhaupt sind, die da mit oder ohne postkoloniale Theorie erklärt werden sollen. Zweitens würde ich doch gerne noch kurz über linken Antisemitismus sprechen. Drittens möchte ich entgegen dem im Gespräch womöglich entstandenen Eindruck festhalten, dass auch einige postkoloniale Theorien selbst problematisch sind – und nicht nur aktivistische „Anwendungen“ derselben. Viertens möchte ich gern darauf hinweisen, dass postkoloniale Theorien mit dem Problem der Gewaltlegitimation keineswegs alleine sind und deshalb fünftens noch kurz andenken, welche Gegengewichte man in Theorie einbauen sollte.

1 Was soll eigentlich erklärt werden?

Das Gespräch ging von der Prämisse aus, dass in den linken Reaktionen auf den 7. Oktober ein Problem bestand, das erklärungsbedürftig ist. Diskutiert werden sollte, inwiefern der Einfluss postkolonialer Theoriebildung als Erklärung bzw. Problemursache in Frage kommt. Das halte ich für eine sinnvolle Fragestellung.

Mit etwas mehr Raum wäre es freilich auch wichtig, noch einmal zu klären, worin das zu erklärende Problem genau besteht – denn hier wird teils selbstverständlich von Problemlagen ausgegangen, die ich in dieser Form nicht sehe. In Feuilletons liest man dieser Tage öfter eine Problembeschreibung, der zufolge Linke sich mit der Hamas solidarisierten oder gar die Massaker als legitimen Akt des dekolonialen „Widerstandes“ gutgeheißen hätten. Das scheint mir in dieser Form in der deutschen Linken aber wirklich nur an den Rändern der Ränder aufzutreten – und dann am ehesten bei eher traditionsmarxistischen Antiimperialist:innen.

Für viel weiter verbreitet und deshalb viel relevanter halte ich ein anderes Problem: Große Teile derjenigen, die sich in Debatten über den Nahostkonflikt schon lange propalästinensisch positionieren, haben sich durch die Massaker vom 7. Oktober kein bisschen in ihrem Weltbild oder ihrer Praxis irritieren lassen. Sie zeigen kaum Verständnis dafür, was das Massaker für viele Jüd:innen bedeutet und gingen umstandslos zur israelkritischen Tagesordnung über. Wenn das Massaker in den Statements überhaupt auftaucht, dann häufig unter „ja, auch schlimm“. Indem man direkt wieder Israel zum zentralen Gegenstand der Kritik macht, dethematisiert man die Gewalt vom 7. Oktober. Catherine Newmark sprach von „Empathielosigkeit“, ich von „fehlender Urteilskraft“. Und weil diese Reaktion bzw. Nichtreaktion viel weiter verbreitet ist, halte ihre Erklärung auch für viel relevanter.

Die plausibelste Erklärung hierfür scheint mir ein in den entsprechenden Kreisen verbreitetes manichäisches Weltbild zu sein, in dem der globale Norden als rassistisch und böse, der globale Süden widerständig und gut gilt und in dem der Konflikt im Nahen Osten als Krieg zwischen einer Siedlerkolonie des globalen Nordens und einer Widerstandsbewegung aus dem globalen Süden interpretiert wird. Wenn Inhaber:innen eines solchen Weltbildes mit dem Massaker vom 7. Oktober konfrontiert sind, haben sie drei Möglichkeiten. Erstens könnten sie am Weltbild zweifeln, weil die Gewalt zu brutal ist, um als „Widerstand“ gelten zu können – solches Zweifeln ist aber sehr anstrengend. Zweitens könnten sie die Massaker in all ihrer Brutalität zu legitimen Mitteln Widerstandes erklären – aber das wollen dann doch die wenigsten. Drittens können sie die Massaker auf die eine oder andere Weise verdrängen und am eigenen Weltbild festhalten, ohne Dinge gutheißen zu müssen, die man dann eigentlich doch nicht gutheißen kann – das ist dann doch die bequemste Lösung.

Entsprechende Weltbilder finden sich in verschiedenen Teilen der Linken in Deutschland und weltweit. Zu den Quellen solcher Weltbilder zählen zum einen der marxistisch-leninistische Antiimperialismus, zum anderen bestimmte Lesarten postkolonialer Theorie – das gilt, obwohl man sowohl als Marxist:in-Leninist:in als auch als postkoloniale Kritiker:in sehr viel klüger sein könnte.

2. Linker Antisemitismus

Aus dem Gespräch explizit ausgeklammert blieb die Geschichte des linken Antisemitismus. Auch das kann man gut Begründen, um eine Überfrachtung zu vermeiden. Tatsächlich finde ich wie eben dargelegt, dass man viele der Fehlurteile erklären kann, ohne auf Antisemitismus als Ursache rekurrieren zu müssen. Allerdings wäre es auch absurd zu unterstellen, dass Antisemitismus keine Rolle spielt.

Spätestens seit dem Frühsozialismus ist Antisemitismus ein fester Bestandteil linker Diskurse – und das ist kein bloßer Zufall. Antisemitische Weltbilder zeichnen sich erstens durch die Annahme aus, dass die gute gesellschaftliche Ordnung durch zersetzende Machenschaften einer verschwörerischen Gruppe verhindert wird, und zweitens durch die Identifikation dieser Gruppe mit den Jüd:innen. Linke Weltbilder zeichnen sich durch die Annahme aus, dass Menschen eigentlich als Gleiche zusammenleben könnten, die gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen dies aber verhindern. Beide Weltbilder sind miteinander kompatibel: Wenn Linke die gesellschaftliche Ursache dafür, dass Menschen heute nicht als Gleiche zusammenleben können, in den Machenschaften einer irgendwie jüdischen Gruppe vermuten, sind sie links und antisemitisch. Insbesondere das oben skizzierte manichäische Weltbild lässt sich gut antisemitisch ausgestalten, wenn man jüdische Machenschaften hinter der Bösartigkeit des globalen Nordens vermutet.

Freilich gibt es dabei keine Notwendigkeit: Linke müssen nicht antisemitisch sein – viele sind es nicht. Auch gibt es keine Exklusivität: Liberale, nationalistische, konservative, religiöse usw. Weltbilder können ebenfalls sehr gut antisemitisch ausgestaltet werden und werden es regelmäßig. Tatsächlich zeigen Umfragedaten recht deutlich, dass Personen, die sich politisch als rechts verorten im Durchschnitt stärker zu Antisemitismus neigen als Personen, die sich politisch als links verorten. Mehr noch: Man kann Linkssein auch sehr gut anti-antisemitisch ausgestalten – aber dann braucht man einen kritischen Begriff von Antisemitismus.

Ein solcher kritischer Begriff von Antisemitismus scheint aber in den Teilen der Linken zu fehlen, die indifferent auf die Hamas-Massaker reagieren.

3. Auch einige postkoloniale Theorien selbst sind problematisch

Daniel James unterschied in unserem Gespäch drei Ebenen des Postkolonialismus: Die Ebene der Theorie, die Ebene der wissenschaftlichen Anwendung von Theorie und die Ebene des Aktivismus. Dabei verstand ich ihn so, dass die Theorie sich durch Offenheit für Ambivalenz auszeichnet, die aber in der wissenschaftlichen Anwendung bisweilen und im Aktivismus noch häufiger verloren geht. Dieses Bild ist sicherlich in vielen Fällen zutreffend.

Jedoch scheint es mir wichtig, die Aussage, dass postkoloniale Theorien Theorien der Ambivalenz sind, einzuschränken. Für einige Theoretiker:innen gilt es mit Sicherheit – es über Homi Bhabha zu sagen, ist geradezu ein Klischee. Andere postkoloniale Theoretiker:innen arbeiten aber selbst mit reichlich grobem Handwerkszeug und formulierend reichlich grobe politische Thesen – auch über den Nahostkonflikt. Als Beispiel sei hier Walter Mignolo genannt (freilich betont der bisweilen, dass er nicht für Postkolonialismus, sondern für Dekolonialität steht, dennoch wird er gängigerweise der postkolonialen Theorie zugerechnet). Mignolo beendet seinen Text Dispensable and Bare Lives mit den folgenden Sätzen:

„Last but not least, all of these went hand in hand with the consolidation, during sixteenth and seventeenth centuries, of homo economicus imperiali. If homo economicus, in the West, could be traced back to the thirteenth century, homo economicous imperiali, in the West, is without a doubt the transformation prompted by the economic change of scale opened by the conquest of the New World and the subsequent massive exploitation of labor. Secular Jewness joined secular Euro-American economic practices (e.g., imperial capitalism). The major consequence of the complicity between secular Jews and Euro-American economic and political practice ended up in the construction of the State of Israel—what Marc Ellis describes as ‚Constantine Jews‘.
Anti-Semitism today is clearly a consequence of the historical collusion between Western (neo) liberalism and secular capitalism, backed up by Christianity, on the one hand, and Constantine Jews, on the other.“

Von diesen Aussagen ist es wahrlich kein weiter Weg zu den Thesen, dass (säkulare) Jüd:innen Teil der kolonialen Unterdrücker:innen geworden und an dem gegen sie gerichteten Hass selbst schuld sind.

4.  Legitimation von Gewalt

Etwas kompliziert ist die am Ende des Interviews kurz andiskutierte Kritik, postkoloniale Theorie sei deshalb problematisch, weil sie Gewalt legitimiere. Kompliziert ist dieser Vorwurf vor allem deshalb, weil fast jede politische Theorie Gewalt legitimiert. Liberale politische Theorie zum Beispiel legitimiert in aller Regel die Gewalt, die ein liberaler Rechtsstaat ausüben muss, um ein liberaler Rechtsstaat sein zu können – z.B. um seine Bürger:innen und seine Rechtsordnung vor extralegaler Gewalt von innen oder außen zu beschützen. Ungefähr so wird aktuell die Gewalt gerechtfertigt, die die israelische Armee in Gaza oder die ukrainische Armee in der Ukraine ausübt. Damit soll nun nicht gesagt sein, dass diese Gewaltrechtfertigung falsch wäre oder dass die Gewalt von gleicher Art wäre, wie die vom 7. Oktober. Damit soll nur gesagt sein, dass der Vorwurf gegen postkoloniale Theorie (gegen welche auch immer) plausiblerweise nicht lauten kann, dass sie Gewalt legitimiert (denn auch sie legitimiert, wie Daniel James ausführte, (wenn überhaupt) nur bestimmte Formen von Gewalt). Der Vorwurf kann nur lauten, dass sie bei der Beurteilung der Legitimität von Gewalt falsche Kriterien anwendet und deshalb Gewalt legitimiert, die nicht legitimiert werden sollte.

(An dieser Stelle könnte man noch einmal über die Sache mit der Fanon-Interpretation diskutieren, aber dafür habe ich gerade keine Muße. Kurz angeteasert: Ich bin mir nicht so ganz sicher, ob ich Daniel James darin zustimme, dass eine sich auf Fanon berufende Legitimation anti-israelischer Gewalt wirklich eine Fehlinterpretation Fanons ist. Meiner Erinnerung nach ist Fanons Text allzu unklar darin, unter welchen Bedingungen antikoloniale Gewalt emanzipatorisch ist. Aber es mag sein, dass ich das falsch in Erinnerung habe oder mit Sartres Vorwort durcheinanderwerfe. Ich habe gerade keine Zeit, das zu prüfen.)

5. Politische Theorie braucht Grenzen für Gewaltlegitimation

Etwas weiter von der Frage des Interviews wegführend: Wenn es stimmt, dass politische Theorie fast immer die eine oder andere Form von Gewalt legitimiert, ist es umso wichtiger, dass sie auch starke Gegengewichte zu dieser Gewaltlegitimierung eingebaut hat. Sonst droht sie mit den von Hannah Arendt als Kernelemente totalitären Denkens erfassten Sätzen „Wer A sagt, muss auch B sagen“ und „Wo gehobelt wird, da fallen Späne“ grenzenlose Gewalt zu legitimieren. Wer über Politik oder politische Theorie spricht, sollte sich der Gefahr, sich in einen Strudel der Gewaltlegitimation zu begeben, sehr bewusst sein.

Diese Gegengewichte bzw. Grenzen können sich aus verschiedenen Quellen speisen: religiös aus der Gottesebenbildlichkeit des Menschen, mit Kant aus der unveräußerlichen Würde aller Menschen, mit Levinas aus dem Angesicht der Anderen, mit Arendt aus der Tatsache, dass man mit Anderen handelnd eine Welt gestaltet, oder ganz banal aus dem Völkerrecht.

Solche Grenzen und Gegengewichte der Gewaltlegitimation brauchen sowohl postkoloniale als auch alle anderen Theorien der Politik. Um den Bogen zurück zur postkolonialen Theorie zu spannen, kann ich sagen, dass ich von Levinas so richtig zum ersten Mal bei Spivak erfahren habe. Soll heißen: Der postkolonialen Theorie liegt die Kritik der Gewalt alles andere als fern.

Um den Bogen zurück zum Nahostkonflikt zu spannen, steht m.E. außer Frage, dass die Gewalt der Hamas vom 7. Oktober als ganze so weit jenseits der Grenzen des Legitimen lag, dass die Zerstörung der Hamas ein legitimes Ziel ist. Jedoch heißt das nicht, dass alle zu diesem Ziel eingesetzte Gewalt legitim wäre; es heißt nicht einmal, dass sich das Ziel mit legitimen Mitteln überhaupt erreichen ließe. Auch wer antisemitismuskritisch, liberal, antitotalitär oder sonstwie motiviert eine gewaltsame Antwort auf den 7. Oktober legitimiert (wie ich selbst es tue), sollte unbedingt darauf achten, nicht in den Strudel der Gewaltlegitimation gezogen zu werden oder sich aus Bequemlichkeit für das Leiden der palästinensischen Bevölkerung kalt zu machen. Es ist richtig, dass Israels Verbündete Israel auf das Einhalten der bekannten Grenzen legitimer Gewalt drängen – Verhältnismäßigkeit, Schonung der Zivilbevölkerung. Denn Israel scheint diese Grenzen nicht einzuhalten. Und wer es mit dem Universalismus und der Kritik der Gewalt irgendwie ernst meint, sollte das nicht als Illoyalität abwehren.