„Wessen und wie gedenkt die Antisemitismuskritik?“

Auf der 14. Blickwinkel-Tagung in Hamburg am 19. und 20. Juni 2023 hielt ich eine Keynote zum Thema „Wessen und wie gedenkt die Antisemitismuskritik?“, deren leicht überarbeitetes Manuskript im Folgenden dokumentiert ist.

Einleitung

Gleich zu Beginn möchte ich einer möglichen Enttäuschung vorbeugen: Sollte jemand von dieser Podiumsdiskussion einen zünftigen Streit zwischen Postkolonialismus und Antisemitismuskritik erwarten, in dem es kracht und blitzt und raucht, kann ich das angesichts der Debatten der letzten Jahre gut verstehen. Nur erfüllen kann ich die Erwartung wohl leider nicht. Denn ich schätze postkoloniale Perspektiven sehr, entsprechend werde ich auch nicht behaupten, der Postkolonialismus sei per se antisemitisch oder dergleichen – auch wenn man so etwas in den Feuilletons bisweilen liest. Wenn man diese Debatten als einen Streit zweier Seiten versteht, dann bin ich kein entschiedener Parteigänger der einen oder anderen, sondern ein Freund des Einerseits-Andererseits.

Dennoch übernehme ich auf diesem Podium gerne die Rolle der Antisemitismuskritik. Denn ich bin davon überzeugt, dass – auch dann, wenn man auf alle unnötige Polemik verzichtet – einige Differenzen und Spannungen zwischen postkolonialen und antisemitismuskritischen Perspektiven bestehen. Wie zum Beispiel Natan Sznaider dargelegt hat, gilt dies insbesondere für Fragen des Erinnerns oder Gedenkens. Und bei allem Positiven, was ich postkolonialen Perspektiven abgewinnen kann, bin ich doch davon überzeugt, dass die Antisemitismuskritik gute Gründe hat, in einigen Punkten unnachgiebig zu sein, die von einigen sich der post- oder dekolonialen Kritik zuordnenden Autor:innen immer wieder explizit oder implizit in Frage gestellt werden.

Die mir aufgetragene Frage lautet: „Wessen und wie gedenkt die Antisemitismuskritik?“ Bevor ich mich ihrer Beantwortung widme, möchte ich zunächst klären, was ich darunter verstehe (1). Darauf skizziere ich die zentrale These der Antisemitismuskritik, dass nämlich Antisemitismus ein besonderes Weltbild innerhalb der modernen Gesellschaft ist (2). Dann gehe ich auf die Diskussion ein, die in aktuellen erinnerungspolitischen Debatten um Antisemitismuskritik und postkoloniale Kritik besonders kontrovers ist: die Frage der Singularität oder Präzedenzlosigkeit der Shoah insbesondere in Hinblick auf das Verhältnis von Kolonialismus und Nationalsozialismus (3). Die Debatten um den Nahostkonflikt muss ich aus Zeitgründen leider (oder zum Glück) aussparen. Abschließend komme ich zurück zur mir aufgetragenen Frage und gehe auf die erinnerungspolitischen Konsequenzen des Gesagten ein (4).

1       Antisemitismuskritik und Erinnerungspolitik

Nimmt man die Frage „Wessen und wie gedenkt die Antisemitismuskritik?“ als Ausgangspunkt, ist zunächst zu klären, wer oder was das Subjekt der Frage, also „die Antisemitismuskritik“, eigentlich ist. Jedenfalls ist die Antisemitismuskritik kein einfaches Subjekt, das einfach so da draußen in der Welt existiert und irgendwelche Dinge tut, wie zum Beispiel gedenken. Es gibt keine Person oder Organisation namens Antisemitismuskritik oder Antisemitismuskritik e.V., die man anrufen und nach ihrer Gedenkpraxis fragen könnte. Vielmehr handelt es sich bei Antisemitismuskritik um ein zusammengesetztes, konstruiertes oder gar gedachtes Subjekt: Ich nutze den Begriff, um eine bestimmte Perspektive auf Gesellschaft zu bezeichnen, für die die Kritik des Antisemitismus zentral ist. Dabei fasse ich die Positionen vieler verschiedener Autor:innen recht grob zusammen, obwohl diese sich gar nicht in allem einig sind. Man kann das ungenau finden. Aber wenn man komplexe Diskurse wie die aktuellen erinnerungspolitischen Streitigkeiten vor Augen hat, lohnt es sich doch, mit solchen vereinfachenden Konstruktionen zu arbeiten, weil sie beim Verstehen der Auseinandersetzungen helfen. Dennoch sollte man sich immer vor Augen halten, dass es sich nur um gedachte Subjekte und um Heuristiken, also dem Verstehen dienliche Vereinfachungen handelt. Denn hält man sich dies nicht bewusst vor Augen, können solche Vereinfachung das Verstehen auch verhindern – zum Beispiel, indem sie zu dem Glauben verleiten, es gäbe eine Antisemitismuskritik und eine postkoloniale Kritik als einheitliche, einander gegenüberstehende Subjekte.

Im Fall des gedachten Subjekts „Antisemitismuskritik“ ist zudem noch zu betonen, dass es viele verschiedene Arten gibt, Antisemitismus zu kritisieren. Heute sind ja praktisch alle kritisch gegenüber Antisemitismus und daher auf ihre je eigene Weise Antisemitismuskritiker:innen. Unter Antisemitismuskritik verstehe ich jedoch nur eine bestimmte, im Folgenden näher beschriebene Art, Antisemitismus zu kritisieren, die mit einem bestimmten Blick auf Gesellschaft verbunden ist. Und wenn die Konkretion hilft, ist es glücklicherweise so, dass die Antisemitismuskritik hierzulande auch in institutionalisierter Form existiert, sodass konkrete Personen von Berufs wegen diese Perspektive einnehmen. Dies tun Antisemitismusbeauftragte des Bundes oder der Länder wie z.B. Felix Klein, Michael Blume und Samuel Salzborn oder Antisemitismusforscher:innen wie z.B. Monika Schwarz-Friesel, Stefanie Schüler-Springorum oder Klaus Holz.

Wenn ich diese Perspektive im Folgenden einnehme und vertrete, so tue ich das in einer reduzierten Form: Manches von dem, was die genannten und ander dieser Perspektive zuzuordnende Personen sagen und schreiben, halte ich für falsch. Ich konzentriere mich im Folgenden auf das, was ich den rationalen Kern dieser Perspektive verstehe und vertrete ihn, soweit die rationalen Argumente meinem Verständnis nach tragen.

Zweitens ist über das Prädikat des Satzes zu sprechen, also über „gedenken“. Hier möchte ich mir die Freiheit erlauben, die Frage etwas zu verändern und nicht von „gedenken“, sondern von „Erinnerungspolitik betreiben“ zu sprechen, weil mir das die Konflikte besser zu bezeichnen sein scheint: Wenn Antisemitismuskritik und postkoloniale Kritik jeweils nur für sich irgendwelcher Dinge gedenken würden, gäbe es nur wenig Streit. Erinnerungspolitik dagegen läuft fast immer auf Streit heraus. Unter Erinnern verstehe ich eine gegenwärtige Bezugnahme auf Vergangenes, die für das gegenwärtige Selbstverständnis oder die Identität derjenigen, die erinnern, relevant ist. Unter Erinnerungspolitik verstehe ich politische Aushandlungen darüber, welche Arten von Erinnern wünschenswert sind. Politische Aushandlungen zeichnen sich dadurch aus, dass sie konflikthaft sind, aber auf das Allgemeine zielen, z.B. indem sie die These vertreten, dass wir alle als staatlich organisierter Gesellschaft auf diese oder jene Weise, mit diesem oder jenem Schwerpunkt Holocausterinnerung betreiben sollten. Meine Frage lautet also: „Welche Erinnerungspolitik betreibt die Antisemitismuskritik?“

2       Die Spezifität des Antisemitismus: Welterklärung und Welterlösung

Nun möchte ich das Subjekt der Frage, also die Antisemitismuskritik, inhaltlich fassen. Dabei kommt es meines Erachtens vor allem auf eine zentrale These an. Diese lautet, dass Antisemitismus nicht angemessen erfasst wird, wenn man darunter nur ein Vorurteil über eine soziale Gruppe oder eine Diskriminierungsform bzw. ein Herrschaftsverhältnis zum Nachteil dieser sozialen Gruppe versteht. All das ist Antisemitismus auch oder kann es zumindest auch sein. Will man einen angemessenen Begriff von Antisemitismus entwickeln, muss man jedoch etwas anderes verstehen, dass Antisemitismus nämlich ein bestimmtes Weltbild ist, das unverstandene Strukturen der modernen Gesellschaft deutet und erklärt.

Moderne Gesellschaft zeichnet sich demnach dadurch aus, dass Herrschaftsverhältnisse fortbestehen, diese aber nicht in Form personaler Herrschaft vorliegen, in der man Herrschende und Beherrschte klar identifizieren kann. Vielmehr ist Herrschaft in der Moderne durch abstrakte Institutionen vermittelt – insbesondere durch den Markt und den modernen Staat bzw. die moderne Verwaltung. Dies führt dazu, dass die Einzelnen sich – durchaus zu Recht – anonymen Mächten ausgeliefert fühlen, die für den Alltagsverstand weder verständlich noch vorhersehbar sind.

Der Antisemitismus bietet den Subjekten eine Erklärung für dieses Ausgeliefertsein und das damit verbundene Unbehagen an. Hinter allen anonymen, abstrakten und selbstläufigen Dynamiken der modernen Gesellschaft kann der Antisemitismus konkrete Personen identifizieren, nämlich Jüd:innen – zur Not ersetzt durch Chiffren. Diese werden als verschwörerische, übermächtige Gemeinschaft imaginiert, die im Hintergrund die Fäden zieht, die Geschicke der Welt lenkt und verhindert, dass die guten Völker der Welt in Frieden miteinander leben können. Dabei operiert der Antisemitismus mit einer Reihe von Gegensatzpaaren, bei denen auf der einen Seite etwas im antisemitischen Weltbild positiv Bewertetes, auf der anderen Seite etwas im antisemitischen Weltbild negativ Bewertetes steht und letzteres als jüdisch identifiziert wird: konkret vs. abstrakt, natürlich vs. künstlich, ehrliche Arbeit vs. Zins und Wucher etc.

Im Zweifel werden die Jüd:innen bzw. wird das jüdische Prinzip für alles Übel der Welt verantwortlich gemacht: Hinter Wirtschaftskrisen, Kriegen und Kriegsniederlagen oder auch hinter dem schlechten Abschneiden der liebsten Fußballmannschaft und der enttäuschten Liebe werden jüdische Machenschaften vermutet. Das entsprechende Zitat, dessen Urheber ich leider nicht identifizieren kann, lautet: Für den Antisemitismus ist nicht nur alles Jüdische böse, sondern auch alles Böse jüdisch.

Wenn für den Antisemitismus nun alles Böse jüdisch ist, ist es geradezu folgerichtig, wenn er sich die Auslöschung alles Jüdischen als die Erlösung der Welt von allem Bösen vorstellt. Dann spricht man von mit Saul Friedländer von Erlösungsantisemitismus, der zugleich ein eliminatorischer, also auf Vernichtung zielender Antisemitismus ist. Dabei sind Jüd:innen nicht einfach Gegner:innen, die im Rahmen eines symmetrischen oder asymmetrischen Gruppenkonflikts besiegt oder unterdrückt werden müssen, wie es in der Menschheitsgeschichte so oft passiert ist. Vielmehr werden sie als das negative Prinzip schlechthin verstanden, das zum Wohle der Menschheit ausgelöscht werden muss.

Die Erkenntnis, dass Antisemitismus die Form von eliminatorischem Erlösungsantisemitismus annehmen kann, entstand nicht einfach nur durch die Analyse antisemitischer Texte. Sie entstand durch die historische Erfahrung der Shoah, in der das nationalsozialistische Deutschland eine eben solche massenmörderische „Erlösung“ der Menschheit in die Tat umzusetzen versuchte. Und weil die für die Antisemitismuskritik zentrale These erst durch die Auseinandersetzung mit Nationalsozialismus und Shoah entwickelt wurde, bleibt die Auseinandersetzung mit diesen für die Antisemitismuskritik auch zentral. Insofern ist die Frage „Welche erinnerungspolitik betreibt die Antisemitismuskritik?“ etwas etwas irreführend, weil sie nahelegt, dass „Erinnerungspolitik betreiben“ bloß irgendeine Tätigkeit unter anderen ist, die das Subjekt Antisemitismuskritik eben auch verfolgt. Jedoch ist es so, dass Antisemitismuskritik erst durch den Bezug auf die nationalsozialistische Vergangenheit entstanden ist. Die Erinnerungsarbeit ist als konstitutiv für das Subjekt.

Dabei gilt die Shoah in der Antisemitismuskritik als die Realisierung eines destruktiven Potenzials, das der Moderne immer innewohnt – weshalb auch eine Wiederholung nicht ausgeschlossen ist, sondern aktiv verhindert werden muss.

3       Singularität, Präzedenzlosigkeit, Shoah und Kolonialismus

Ein kontroverser Punkt in den erinnerungspolitischen Debatten um Antisemitismuskritik und postkoloniale Kritik ist die Frage nach der Singularität oder Präzedenzlosigkeit der Shoah. Der Singularitätsthese zufolge war die Shoah ein einmaliges, der Präzedenzlosigkeitsthese zufolge zumindest ein erstmaliges bzw. beispielloses Ereignis.

Die Debatte um diese Fragen krankt leider daran, dass nicht alle Beteiligten immer klar darlegen, was sie jeweils meinen. Das führt dazu, dass eine Singularität lautstark behauptet oder bestritten wird, ohne dass man überhaupt weiß, was da nun eigentlich behauptet oder bestritten wird. Auf diese Art kann man dann bestens polemisch aneinander vorbeireden.

Blickt man auf die Geschichte der Debatte um Singularität und Präzedenzlosigkeit wird deutlich, dass mit den beiden Begriffen sehr Unterschiedliches ausgedrückt wurde. Der vielleicht stärkste Singularitäts-Claim lautet, das Ereignis der Shoah sei dem menschlichen Verstand einfach nicht zugänglich. Es könne weder verstanden noch erklärt und somit auch nicht wie andere Ereignisse in die Geschichte eingeordnet oder sinnvoll mit diesen anderen Ereignissen verglichen werden. Diese insbesondere mit Elie Wiesel identifizierte „metaphysische“ Variante der Singularitätsthese scheint mir nicht einleuchtend. Es mag daran liegen, dass ich als sozialwissenschaftler allzu rationalistisch orientiert bin, aber das einordnende Untersuchen von Bedingungen sowie das Vergleichen scheinen mir gerade für die Antisemitismuskritik wichtige Unterfangen zu sein. Und mit dieser Position bin ich alles andere als allein, denn es scheint mir so, dass in der gegenwärtigen Forschungsdiskussion in Deutschland niemand konsequent eine solche „metaphysische“ Singularitätsthese vertritt.

Jedoch gibt es auch deutlich schwächere Varianten, die die Shoah und ihre Bedingungen zwar für dem Intellekt zugänglich halten, aber an ihr doch etwas Einmaliges oder Erstmaliges identifizieren, das sie von allen anderen oder zumindest allen vorherigen Fällen von Massengewalt abheben soll. Auch von diesen schwächeren Varianten scheinen mir einige nicht überzeugend zu sein.

Dies gilt etwa für die These, das Singuläre oder Präzdenzlose des Holocaust liege in der industriell durchrationalisierten Methode des Massenmordes. Zwar ist es in der Sache korrekt, dass bis heute niemand außer den Nationalsozialist:innen so vorging. Und in der Tat ist es etwas anderes, ob wie in Deutschland industriell in Todesfabriken oder wie in Ruanda mit Hiebwaffen gemordet werden. Aber ich bin mir nicht sicher, wie entscheidend die Tatwaffen für die Einordnung sind – auch damit würde „Auschwitz“ wie Jürgen Habermas in anderem Zusammenhang gegen Ernst Nolte anmerkte „auf das Format einer technischen Innovation“ geschrumpft. Wie Urs Lindner kürzlich überzeugend darlegte, zielt die mit der Singularitäts- oder Präzedenzlosigkeitsthese vorgenommene Einordnung immer auch auf die normative Dimension – und bei normativen Urteilen scheinen mir die Tatmittel eher von sekundärer Bedeutung. Zudem würde mit dieser Formulierung zwar eine Spezifität der nationalsozialistischen Massenmorde hervorgehoben, aber nicht die des Massenmordes gegen die Jüd:innen, denn auch Sinti:zze und Rom:nja sowie andere Opfergruppen wurden „industriell“ ermordet.

Auf eine andere Art unhaltbar scheint mir die These, das Singuläre oder Präzedenzlose der Shoah liege im Willen, eine Gruppe von Menschen als ganze auszulöschen. Diese Intention scheint für ein normatives Urteil in der Tat bedeutsam. Allerdings scheint ein solcher Vernichtungswille bei anderen Genoziden ebenfalls vorgelegen zu haben, unter anderem bei dem Genozid an Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika dreieinhalb Jahrzehnte vor der Shoah sowie wiederum beim zeitgleich begangenen Genozid gegen Sinti*zze und Romnja. Also lässt sich mit diesem Argument weder Singularität noch Präzedenzlosigkeit begründen.

Die eine Variante der Präzedenzlosigkeitsthese, die mir haltbar erscheint, wäre die Schnittmenge aus den Thesen von Saul Friedländer und Dan Diner vertreten und zielt auf den Selbstzweckcharakter der Shoah. Die Jüd:innen sollten nicht ausgelöscht werden, weil ein realer Konflikt um Land oder Ressourcen oder die Gesellschaftsordnung bestanden hätte, sondern weil ihre Vernichtung die Erlösung der Menschheit bringen sollte. Daher wurden erhebliche Ressourcen in diesen Massenmord investiert, und zwar unabhängig von der Frage, ob dies unter ökonomischen oder militärischen Gesichtspunkten instrumentell rational war oder nicht.

Dass Diner hier von einem Zivilisationsbruch spricht, wird allzuoft missverstanden, weshalb es einer Erläuterung bedarf: Alle Fälle von Massengewalt zeichnen sich dadurch aus, dass die Täter:innen den Opfern die Anerkennung und den Respekt verweigern, die ihnen als Subjekte mit Rechten und Würde zustehen. Dies galt schon lange vor 1941, nicht nur, aber insbesondere im Kolonialismus. Die Opfer des Shoah konnten dagegen nicht einmal darauf zählen als Objekte der Herrschaft und Ausbeutung betrachtet und entsprechend behandelt zu werden. Eben diese Enttäuschung der Mindesterwartung, wenn schon nicht als Subjekte respektiert, so doch zumindest als mehr oder weniger nützliche oder schädliche Objekte behandelt zu werden, bezeichnet Diner mit dem leider oft missverstandenen Begriff des Zivilisationsbruchs.

Dieses Verständnis von Präzedenzlosigkeit scheint mir Maße plausibel.

Aus diesem Verständnis von Präzendenzlosigkeit folgt meines Erachtens kein plausibles Argument gegen eine Einordnung der Shoah in die historischen Zusammenhänge oder gegen systematische Vergleiche mit anderen Fällen von Massengewalt. Und es gibt heute auch kaum jemanden, der einer solchen Einordnung und solchen Vergleichen insgesamt widerspräche. Und wenn man zudem noch intellektuell offen ist – und das sollte man sein – spricht auch nichts dagegen, bei diesem Einordnen und Vergleichen kritisch zu prüfen, inwiefern die These der Präzedenzlosigkeit wirklich haltbar ist.

Konkret auf den Kolonialismus bezogen hat die Antisemitismuskritik meines Erachtens keine plausiblen Gründe, sich gegen eine deutlich intensivere Erforschung des Kolonialismus im Allgemeinen und des deutschen Kolonialismus im Besonderen auszusprechen – auch nicht gegen eine Diskussion der Kontinuitäten, Verbindungen und Parallelen zwischen Kolonialismus und Nationalsozialismus. Im Gegenteil hat sie alle Gründe, solche Bestrebungen zu unterstützen, denn die Erforschung der Bedingungen der Shoah zählt zu ihren Kernaufgaben. Und tatsächlich ging Hannah Arendt in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, das eines der Gründungsdokumente der Antisemitismuskritik ist, eben diesen Fragen schon vor mehr als 70 Jahren nach.

Wogegen die Antisemitismuskritik jedoch mit guten Gründen Einspruch erhebt, sind alle Versuche des Einordnens und Vergleichens, die die in jahrzehntelange Forschungsarbeit und ausführlichen Diskussionen angehäuften Argumente für die Spezifität des Antisemitismus und Präzedenzlosigkeit der Shoah einfach übergehen und diese unterschiedslos zwischen anderen Genoziden und kolonialen Verbrechen in die Geschichte der Massengewalt einzuordnen. Antisemitismusbegriff hat allen Grund darauf zu bestehen, dass der Antisemitismus als spezifisches Weltbild eine entscheidende Bedingungen der Shoah ist. Entsprechend muss er allen Darstellungen widersprechen, die beanspruchen, die Bedingungen der Shoah zu untersuchen, diesen Faktor aber marginalisieren.

Ebenfalls ist anzumerken: Wer die These der Singularität oder Präzedenzlosigkeit abräumt, indem er oder sie sie mit der in der Tat zweifelhaften metaphysischen Version identifiziert und sich mit viel Engagement einem Vergleichsverbot widersetzt, ohne anzugeben, wo es denn besteht, wird der Debatte nicht gerecht – dass dies immer wieder passiert, hat z.B. Steffen Klävers ausführlich dargelegt.

4       Konsequenzen für die Erinnerungspolitik

Nun endlich zur Frage nach den erinnerungspolitischen Konsequenzen, die aus dieser Perspektive zu ziehen sind: Der Antisemitismuskritik ist es wichtig, dass die Präzedenzlosigkeit der Shoah und die Spezifität des Antisemitismus in der Erinnerungskultur berücksichtigt werden. Nationalsozialismus und Shoah sollten in der Erinnerungskultur eine zentrale Stellung einnehmen.

Diese Forderung nach einer Zentralität des Holocaustgedenken gilt in jedem Falle in Deutschland als dem Land der Täter und dem selbsterklärten Rechtsnachfolger der Nationalsozialismus – hier sollte die Erinnerung an Nationalsozialismus und Shoah nicht nur eine, sondern die zentrale Stellung einnehmen. Dies gilt auch, wenn die deutsche Bevölkerung (nicht nur, aber hauptsächlich aufgrund von Immigration) diverser wird. Raul Hilbergs Satz, dass der Holocaust in Deutschland immer auch Familiengeschichte ist, gilt in immer geringerem Maße. Diese Veränderung darf nicht igrnoriert werden. Jedoch gilt die Pflicht zur staatsbürgerlichen Verantwortung für die Erinnerung auch für „neue Deutsche“. Auch in den USA oder Kanada wird man Menschen, deren Vorfahr:innen nach dem Ende der Sklaverei oder der Verbrechen gegen die First Nations eingewandert sind, die staatsbürgerliche Verantwortung für diese Verbrechen zugemutet. Dies sollte in Deutschland nicht anders sein.

Während man in Deutschland fordern muss, dass das Gedenken an die Shoah im Zentrum der Erinnerungskultur steht, ist dies für andere Länder abzuschwächen. Sieht man die Shoah als präzedenzlose Realisierung des destruktiven Potenzials der Moderne insgesamt, deren Wiederholung mit allen Mitteln verhindert werden muss, ist zu fordern, dass ihr auch in anderen Ländern zentraler Stellenwert in der Erinnerungspolitik zukommt. Jedoch wird man von den USA, Südafrika oder Ruanda kaum sinnvoll fordern können, dass die Shoah dort wichtiger genommen wird als die für die jeweilige Nationalgeschichte zentralen Formen von Massengewalt.

Zugleich heißt Zentralität auch in Deutschland nicht Exklusivität. Vielmehr ist zu betonen, dass ein enger und beidseitiger Zusammenhang zwischen Holocausterinnerung und Menschenrechtsuniversalismus besteht. Nicht nur sollte die Erinnerung durch den Menschenrechtsuniversalismus motiviert sein, auch umgekehrt, entstanden die Menschenrechte gerade in Reaktion auf die Shoah. Entsprechend hat antisemitismuskritische Erinnerungspolitik alle Gründe, die Erinnerung an andere Menschenrechtsverletzungen nicht zu verhindern, aktiv sondern einzufordern.

Mir scheint Michael Rothbergs Idee einer multidirektionalen Erinnerung, der zufolge Erinnerung kein Nullsummenspiel ist, in einigen Punkten allzu optimistisch. So sollte man reale Konflikte nicht übergehen. Diese können sowohl in banalen Konflikten um begrenzte Ressourcen (z.B. um die Zeit der Bildenden und der zu Bildenden bestehen) als auch in inhaltlichen Fragen. Zum Beispiel gibt es meines Erachtens gute antisemitismuskritische Gründe, bestimmte von Rothberg gefeierte Formen des Erinnerns sehr kritisch zu sehen – z.B. die Parallelisierung von Warschau und Gaza.

Das heißt meines Erachtens aber nicht, dass Erinnerung an die Shoah und die Erinnerung an den Kolonialismus in einem allgemeinen Konkurrenz- oder Konfliktverhältnis stünden. Erst recht verfehlt scheint mir die bisweilen geäußerte These, dass dem Kolonialismus in der deutschen Erinnerungskultur vor allem deshalb so wenig Aufmerksamkeit zukomme, weil der Holocaust so viel Aufmerksamkeit einnähme. Hierfür fehlen mir die klaren Belege. Viel plausibler scheint mir die banale Erklärung, dass der Kolonialismus deshalb so wenig erinnert wird, weil die Erinnerung abgewehrt wird. Gerade die antisemitismuskritische Erinnerungsarbeit, wie sie etwa in Form von Geschichtswerkstätten- und Gedenkstättenbewegung vollzogen wurde, hat meines Erachtens den Weg dafür geebnet, massenhafter Gewalt, die von staatlichen und nichtstaatlichen Akteur:innen in Deutschland ausging, erinnerungspolitisch zu berücksichtigen.

Entsprechen könnten und sollten Antisemitismuskritik und postkoloniale Kritik Verbündete sein – wenn man sich unnötiger Polemiken enthielt und nicht so energisch aneinander vorbeiredete, dafür aber reale Meinungsverschiedenheiten offen ausdiskutierte.