1. Die Verbrechen, die die Hamas am 7. Oktober begangen hat, waren ein Massaker, das in Ausmaß und Brutalität auch innerhalb dieses Konfliktes alles in den Schatten stellt, was seit dem Massaker von Sabra und Schatila 1982 passiert ist. Wer das nicht ohne Relativierung anerkennen kann, sollte sich zum Thema einfach nicht äußern.
2. Ja, solche Verbrechen haben einen relevanten Kontext und ja, zum relevanten Kontext zählen in diesem Falle auch Geschichte und Gegenwart israelischer Besatzungs-, Blockade- und Siedlungspolitik. Aber die Verbrechen des 7. Oktober lassen sich dadurch nicht nur nicht rechtfertigen, sie lassen sich durch den Kontext auch nicht erklären. Sicherlich begünstigt ein solcher Kontext Hass und Gewalt. Aber derartige Verbrechen brauchen vor allem entschlossene Akteur:innen, die sie planen und durchführen. Sie könnten sich immer auch entscheiden, dies nicht zu tun bzw. etwas anderes zu tun. Diese Akteur:innen sind für die Taten verantwortlich, nicht der historische Kontext. Es ist auch nicht einfach so, dass die Taten eben von jemand anderem begangen würden, wenn es die Hamas nicht gäbe. Das zu behaupten ist magischer Strukturalismus, der keine menschliche Verantwortung mehr kennt, Kontingenz ignoriert und die Bedeutung von Organisation nicht versteht (Fehler, die sozialwissenschaftlich ausgebildete Linke freilich häufiger begehen).
3. Daher gilt: Diese Taten haben Täter. Sie auszuschalten, von der Wiederholung abzuhalten und zur Rechenschaft zu ziehen, ist nicht nur legitim. Wo es möglich ist, ist es auch geboten.
4. Ja doch, Israel muss dabei die völkerrechtlichen Normen der Verhältnismäßigkeit und der Schonung der Zivilbevölkerung achten (wobei das Gebot der Verhältnismäßigkeit nicht auf ein Gleichgewicht der zivilen Opfer auf beiden Seiten zielt, bitte ggf. bei Wikipedia nachlesen). Und ja doch, es ist legitim, wenn andere Israel dazu auffordern. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass relevante Repräsentant:innen der israelischen Politik und des israelischen Militärs Aussagen trafen, die der Ankündigung eines völkerrechtswidrigen Vorgehens gleichkamen. Daher ist die Aufforderung weder falsch noch so selbstverständlich, dass es ihrer gar nicht bedürfte.
5. Wer sich zum Thema äußert, ohne die Signifikanz des Massakers ernstzunehmen, hätte besser geschwiegen und muss sich entsprechende Kritik gefallen lassen. Wer aber nichts sagt, muss sich das Schweigen m.E. in der Regel nicht vorwerfen lassen. Es gibt nur sehr wenige Akteure, von denen man zu Recht *verlangen* kann, sich zu äußeren (z.B. die Bundesregierung oder alldiejenigen, die auch sonst immer über das Thema sprechen). Konkreter: Sicher ist es wünschenswert, dass und erfreulich, wenn muslimische Organisationen die Massaker der Hamas verurteilen. Aber ich sehe keinen Grund sie oder sonstwen zu kritisieren, wenn sie mal gar nichts sagen. (Ich selbst war z.B. in den letzten drei Wochen quasi konstant auf Dienstreise. Ich war schon damit ausgelastet, mich überhaupt über die Entwicklungen und Ereignisse informiert zu halten und bin kaum dazu gekommen, die Debatte zu verfolgen. Ehe ich dann zwischen Tür und Angel irgendetwas Undurchdachtes und Halbinformiertes schreibe, habe ich lieber ganz auf öffentliche Äußerungen verzichtet.)
6. Besonders frustrierend und enttäuschend finde ich es, wenn Personen oder Organisationen sich in ihrer Deutungs- und Statement-Routine überhaupt nicht von den Ereignissen irritieren lassen, obwohl sie sich irritieren lassen müssten. Dies gilt insbesondere für diejenigen, die direkt souverän zur Verurteilung der israelischen Angriffe auf Gaza oder der israelischen Besatzungspolitik insgesamt übergehen (also für so ziemlich alle politisch engagierten Musiker:innen aus dem UK). Fast ebenso irritiert mich das routinierte Abspielen einer symmetrischen Problematisierung der „Gewalt von beiden Seiten“ bzw. eines symmetrischen Bedauerns der „Opfer auf beiden Seiten“. Es ist höchst wünschenswert, Empathie für Menschen auf beiden Seiten zu haben und zu zeigen. Die Situation der Bevölkerung in Gaza ist furchtbar und wird gerade noch furchtbarer. Niemand sollte sich dem gegenüber kalt machen. Aber die neutrale Symmetrie der abstrakten Verurteilung von Gewalt und Leiden allein geht nicht auf. Die Täter vom 7. Oktober müssen zur Rechenschaft gezogen und von der Wiederholung ihrer Tat abgehalten werden. Ein bloß abstraktes Bedauern aller Opfer läuft Gefahr, die dabei ausgeübte Gewalt mit der Gewalt des Massakers gleichzusetzen.
7. So würde ich auch das von mir in den letzten Jahren immer wieder vertretene Argument qualifizieren, demzufolge der Konflikt zwischen Antisemitismuskritik und Rassismuskritik der Streit zweier herrschaftskritischer Projekte ist, die beide von einem emanzipatorischen Impuls motiviert sind, eine relativ hohe theoretische Konsistenz aufweisen und ihre Thesen in plausiblem Maße empirisch stützen können. Daran halte ich fest, aber: Wer sich von einem Massaker wie dem von 7. Oktober nicht im geringsten Bisschen irritieren lässt, sondern einfach direkt souverän die israelische Besatzung verurteilt und zur eigentlichen Ursache des Problems erklärt, mag irgendwie von einem emanzipatorischen Impuls getrieben sein und eine theoretisch relativ konsistent begründete Position haben. Er:sie ist aber auch moralisch völlig bankrott und hat als Mensch versagt.
8. Auch die antisemitischen Ausbrüche in Deutschland sind bedrohlich. Genau in dem Moment, in dem Israel so wenig als sicherer Ort für Jüd:innen erscheint, wie lange nicht, fliegt in Berlin ein Brandsatz auf eine jüdische Einrichtung und werden Wohnhäuser von Jüd:innen mit Davidsternen beschmiert bzw. markiert.
9. Sehr unzufrieden bin ich, wenn die Diskussionen über diese antisemitischen Ausbrüche in Deutschland von antirassistischen Linken und Liberalen kurzerhand so quittiert werden, dass es ja auch in der Mehrheitsgesellschaft Antisemitismus gebe und die Debatten über den spezifischen Antisemitismus der Anderen eine rassistische Weißwaschung der Mehrheit auf Kosten einer Minderheit seien. Diese die Mehrheitsgesellschaft reinwaschenden diskursiven Dynamiken gibt es und man soll sie kritisieren. Wenn man sich aber auf diese Kritik beschränkt, ohne den spezifischen Antisemitismus als spezifisches Problem zu benennen, halte ich das für denkfaul. Damit schafft man es zwar, das eigene linke oder liberale Weltbild stabil zu halten und sicher auf der Seite der Guten zu stehen, weicht aber einem realen Problem aus.
10. Aber wie gesagt: Es gibt die Dynamiken. Und man soll sie kritisieren. Meinetwegen kann man die Demonstrationsanmeldungen bestimmter propalästinensischer Akteure, bei deren Veranstaltungen es in der Vergangenheit zu Solidarisierungen mit der Hamas oder zu eindeutig antisemitischen Äußerungen kam, behandeln wie Demonstrationsanmeldungen von Neo-Nazis. Aber dann ist eben festzuhalten: Demonstrationen von Neo-Nazis werden öfter von den Sicherheitsbehörden verboten, in aller Regel aber spätestens in zweiter Instanz von der Justiz doch wieder erlaubt – teils dann mit Auflagen und Einschränkungen. Wenn Hogesa 2014 die Kölner Innenstadt demoliert, ein Jahr später aber wieder eine Kundgebung in Köln durchführen kann, verstehe ich nicht, wie es juristisch konsistent sein kann, dass propalästinensische Demonstrationen so viel effektiver verboten werden. Auch Antisemit:innen haben Grundrechte, die Versammlungsfreiheit ist eines davon. Außerdem gilt hier wie für jedes gesellschaftliche Problem: Durch Abschiebung wird man es nicht lösen können.
4 Ergänzungen vom 23.10.2023:
Ich möchte den Text nicht nachträglich inhaltlich editieren (das schiene mir nicht redlich, nachdem er so viel geteilt wurde). Aber vier Dinge würde ich nach Diskussionen in der Kommentarspalte heute etwas anders schreiben, weshalb ich sie hier ergänze:
1. Ich schrieb: „Fast ebenso irritiert mich das routinierte Abspielen einer symmetrischen Problematisierung der ‚Gewalt von beiden Seiten‘ bzw. eines symmetrischen Bedauerns der ‚Opfer auf beiden Seiten‘.“ Das stimmt nicht. Diese symmetrisch-humanitäre Positionierung halte ich zwar für keine durchhaltbare Position. Aber sie ist mir unendlich viel lieber als die reflexhafte Verurteilung Israels, nicht „fast ebenso“ irritierend. Es kommt freilich darauf an, wer sich äußert: Von „normalen Menschen“ würde ich nicht viel mehr verlangen als humanistische Empathie mit allen Opfern. Von Meinungs-Profis aus Medien und Wissenschaft erwarte ich mehr.
2. Einige Formulierungen sind etwas arg kraftmeierisch geraten: „Diese Taten haben Täter. Sie auszuschalten, von der Wiederholung abzuhalten und zur Rechenschaft zu ziehen, ist nicht nur legitim. Wo es möglich ist, ist es auch geboten.“; „Die Täter vom 7. Oktober müssen zur Rechenschaft gezogen und von der Wiederholung ihrer Tat abgehalten werden.“ Das kann man so lesen, als sei mir die israelische Regierung noch zu zurückhaltend. Das ist nicht so. Zwar halte ich das Ziel der Ausschaltung der Hamas weiterhin für legitim, allerdings stehen dem auch andere Normen und Ziele gegenüber, insbesondere die Schonung der Zivilbevölkerung in Gaza und die Rettung der Geiseln.
3. In den Punkten 9 und 10 spreche ich von „Dynamiken“, bei denen die Mehrheit auf Kosten einer Minderheit weißgewaschen wird, Grundrechte ungleich eingeschränkt werden und Abschiebungen als Lösung gelten. Der angemessene Begriff für diese „Dynamiken“ ist „Rassismus“. Das hätte ich so benennen sollen.
4. Der Punkt zu Sabra und Schatila war potenziell missverständlich ausgedrückt. Es ging mir an der Stelle vor allem darum darzulegen, dass das Massaker vom 7. Oktober innerhalb des Konflikts eine Zäsur darstellt und nicht einfach als ein weiteres Glied in einer langen Reihe von Völker- oder Menschenrechtsverletzungen abgetan werden kann. Ich wollte dabei jedoch nicht einfach behaupten, dass es in der Geschichte des Konflikts bislang nichts derartiges gab, weil ich mir nicht sicher bin, ob es richtig wäre. Auch in Sabra und Schatila wurde wahrscheinlich eine ähnliche Zahl von Zivilist:innen ermordet. Dabei wollte ich es eigentlich bewusst vereiden, eine Bewertung darüber vorzunehmen ob eines der beiden Massaker größer/relevanter/schlimmer war als das andere. Jedoch sehe ich ein, dass meine Formulierung doch so gelesen werden kann, als lege sie nahe, dass das Massaker Sabra und Schatila schlimmer gewesen sei. Um das aufzulösen würde ich heute zumindest deutlicher formulieren, dass man mindestens bis Sabra und Schatila zurückgehen müsste, um etwas zu finden zu können, bei dem man überhaupt nur diskutieren müsste, ob es ähnlich ist.