In diesem zweiten Teil meiner Vortragsverschriftlichung geht es darum, was Antisemitismuskritik und Rassismuskritik jeweils unter Antisemitismus und Rassismus verstehen – und inwiefern man von beiden etwas über beides lernen sollte.
(Anmerkung: Ich bin nie dazu gekommen, den hier versprochenen dritten Teil für den Blog aufzubereiten. Der komplette Text findet sich in unterschiedlichen Versionen in diesem Peripherie-Artikel sowie in meinem Beitrag zum Sammelband Beißreflexe.)
4 Das Verständnis des je eigenen Problems
4.1 Antisemitismus als Weltbild
Die Antisemitismuskritik versteht ihren Gegenstand in erster Linie als eine bestimmte ideologische und projektive Deutung der Welt, als antisemitisches Weltbild.
Im Kern des antisemitischen Weltbildes steht demnach die Imagination einer guten, natürlichen Ordnung und Gemeinschaft, in der die Menschen – oder auch „die Völker“ – in Harmonie miteinander leben könnten. Die Tatsache, dass die Wirklichkeit des modernen Lebens kein solches Schlumpfhausen ist, wird dann durch die Machenschaften einer kleinen verschwörerischen Gruppe erklärt – und im klassischen Fall ist diese Gruppe eben jüdisch. Diese Imagination eines guten Selbst und eines bösen jüdischen Anderen ist mit der Konstruktion einer Reihe von Gegensatzpaaren verbunden: Das gute Eigene gilt als wesenhaft natürlich, organisch gewachsen, konkret, ehrlich usw., das böse jüdische Andere als wesenhaft künstlich, konstruiert, abstrakt, verschlagen, betrügerisch, gierig usw.
Die Attraktivität, die dieses Weltbild auf so viele Menschen ausübt, wird in der Antisemitismuskritik unter Rückgriff aus psychoanalytische und marxistische Theoreme erklärt: Die moderne Gesellschaft konfrontiere das Subjekt nicht nur wie jede Gesellschaft bisher mit Unannehmlichkeiten und Anstrengungen; diese Anforderungen seien in der Moderne zusätzlich noch in einer höchst intransparenten Weise strukturiert, die sich dem Alltagsverstand entzieht. In modernen Gesellschaften sind die Einzelnen eben nicht einfach der Natur sowie der Herrschaft anderer Menschen und durch tradierte Weltbilder legitimierter Institutionen unterworfen, sondern auch den Dynamiken des krisenanfälligen Marktes in dem notorisch alle zu kurz kommen. Dieses abstrakten Herrschaftsverhältnis werde im antisemitischen Weltbild dann konkret gedeutet, hinter den abstrakten Marktmechanismen konkrete Drahtzieher und hinter jedem Übel der Welt eine jüdische Machenschaft vermutet.
Dabei würden den Jüd_innen projektiv die Macht, der Erfolg und die Loyalität zugeschrieben, die man selbst sich für sich selbst und die eigene Gemeinschaft heimlich wünscht. Gerade im Nationalsozialismus wird deutlich, dass sich im Vorwurf, die Jüd_innen wollten die Welt beherrschen, der eigene Wille zur Weltherrschaft spiegelt.
Aus diesem Grunde wohne dem antisemitischen Weltbild zumindest der Möglichkeit nach die Tendenz zum Erlösungs- und Vernichtungsantisemitismus inne: Wenn hinter allem Bösen und Schlechten jüdische Machenschaften vermutet werden, erscheint die Auslöschung des Jüdischen als die Erlösung der Welt vom Bösen. Der Kampf gegen die Jüd_innen wird zum Erlösungskampf der Menschheit.
4.2 Rassismus als soziales Herrschaftsverhältnis
Die Rassismuskritik interessiert sich insgesamt weitaus weniger für das, was in den Köpfen der Subjekte passiert. Im Mittelpunkt des Interesses stehen weniger Weltbilder, sondern vielmehr soziale Verhältnisse und soziale Praxis. Rassismus wird entsprechend nicht als ein bestimmtes Weltbild oder eine bestimmte Form der pathischen Projektion definiert, sondern als ein soziales Verhältnis, in dem eine Gruppe privilegierten Zugang zu materiellen und symbolischen Ressourcen hat, während die andere Gruppe davon ausgeschlossen bleibt. Rassismus bedeutet also in erster Linie eine Ungleichverteilung von Lebenschancen: Die einen haben bessere Chancen, ein gutes Leben zu führen als die anderen, was sich heute Beispielsweise durch Diskriminierung auf dem Arbeits- oder Wohnungsmarkt ausdrücken kann. Die Mechanismen, nach denen diese Diskriminierung vollzogen wird, können entweder rechtlich und formal institutionalisiert oder eher informell sein. Ein besonderer Augenmerk wird auf die alltäglichen Praktiken gerichtet, mit denen die Subjekte diese Diskriminierung tagtäglich produzieren und reproduzieren.
Zentral für die Rassismuskritik ist dabei das Motiv, dass es sich bei den rassistisch Diskriminierten nicht einfach um Gruppen handelt, die schon vor dem Rassismus als natürliche oder soziale Einheiten gegeben gewesen wären. Vielmehr müssten diese Gruppen als unterscheidbare Gruppen erst sozial konstruiert werden, bevor sie diskriminiert werden können. Dieser als Rassifizierung bezeichnete Prozess der Differenzkonstruktion gilt dann bereits Teil des Rassismus – zumindest sofern es entlang dieser Differenzen schließlich wirklich zu einer Ungleichverteilung von Ressourcen komme.
Die rassistische Differenz als Konstruktion zu beschreiben, heißt, ihre soziale Gewordenheit und ihre Kontingenz zu betonen – es könnte immer auch anders sein. Jedoch heißt es nicht, sie als beliebig zu verstehen.
Vor allem muss davon ausgegangen werden, dass dem Prozess der Rassifizierung zwar keine klar identifizierbaren Gruppen, aber doch bereits bestehende Machtgefälle vorausgehen. Diejenigen, die als rassifizierte Andere konstruiert werden, waren im Mittel schon vor dem Rassismus in einer relativ benachteiligten Position – sei es ökonomisch, sei es politisch, sei es anderweitig. Die rassistische Differenzkonstruktion führt dazu, dass diese Unterschiede legitimiert und im Effekt verfestigt werden. Dieses Motiv verweist auf die enge Verknüpfung von kapitalistischer Ausbeutung, politischer Herrschaft und rassistischer Differenzkonstruktion. Insofern ist auch die häufig vorgebrachte Polemik verfehlt, Rassismuskritik interessiere sich nicht für Ökonomie. Richtig verstanden hilft sie im Gegenteil, ein zentrales Element kapitalistischer Gesellschaft zu verstehen.
Der rassistische Diskurs besteht im Kern entsprechend darin, den Anderen bestimmte Eigenschaften zuzuweisen, die rechtfertigen, dass deren Marginalisierung und Diskriminierung sich fortsetzt. Diese Zuschreibung von Eigenschaften kann auf verschiedene Weisen erfolgen: Sie kann sich biologistisch auf die vermeintliche Natur der Anderen oder kulturalistisch auf ihre vermeintliche Kultur beziehen. In der Regel liegen Kombinationen aus beiden Zuschreibungen vor. Freilich macht es für die diskriminierende Praxis einen Unterschied, auf welche Ebene sich der Diskurs bezieht, aber diskriminierende Effekte sind auf beide Weisen möglich.
Damit Rassismus funktionieren kann, müssen auch Merkmale definiert werden, anhand derer das diskriminierende Subjekt praktisch „erkennen“ kann, ob das Gegenüber der zu diskriminierenden Gruppe angehört. Diese Stigmata können körperlich sein, es kann sich aber auch um Bestimmte Kleidungsstücke und Handlungsweisen handeln.
5 Das (Miss-)Verständnis des je anderen Problems
Was passiert nun, wenn man aus diesen Perspektiven auf das je andere Problem schaut? Was passiert also, wenn die Antisemitismuskritik über Rassismus, was wenn die Rassismuskritik über Antisemitismus spricht?
5.1 Rassismus als Weltbild?
Blickt man aus antisemitismuskritischer Perpektive auf Rassismus, sieht man darin das Spiegelbild des Antisemitismus. Während die antisemitische Projektion dem Gegenüber unglaubliche Macht, Klugheit und Gerissenheit zuschreibt, schreibt die rassistische Projektion genau die gegenteiligen Eigenschaften zu: Naturverbundenheit, Trägheit, Dummheit, Faulheit, Rückständigkeit usw. Während im Antisemitismus dem Anderen all die Eigenschaften im Übermaß zugeschrieben werden, die man mitbringen muss, um auf dem Markt erfolgreich zu sein, werden ihn im Rassismus all die Eigenschaften zugeschrieben, die ein Versagen auf dem Markt bedeuten. Projiziert werden hier nicht Eigenschaften, die sich das Subjekt heimlich selbst wünscht, sondern Eigenschaften, die es in sich spürt, sich selbst aber verbieten muss.
In ihrer Spiegelbildlichkeit bilden Rassismus und Antisemitismus aber keinen Widerspruch; vielmehr ergänzen sie einander komplementär zu einem allumfassenden Weltbild.
Innerhalb der Antisemitismuskritik gibt es jedoch die Tendenz, dem Rassismus einen eher sekundären Stellenwert beizumessen: Weil der Antisemitismus auf Vernichtung, der Rassismus aber „nur“ auf Beherrschung ziele, gilt letzterer oft als verhältnismäßig weniger gefährlich und relevant. Der Antisemitismus gilt wie Samuel Salzborn es formuliert als die „negative Leitidee der Moderne“; der Rassismus erscheint vielen in diesem Spektrum bloß als eine Herrschaftsideologie unter vielen.
Mitunter geht die Priorisierung des Antisemitismus mit der Verleugnung von Rassismus in der Gegenwart einher. Während die entsprechenden Autor_innen eine denkbar weite Definition von Antisemitismus vertreten, definieren sie Rassismus so eng wie möglich und erklären ihn zu einem Phänomen der Vergangenheit – schließlich gebe es heute keine ernstznehmenden politischen Kräfte, die noch Rassentheorien verträten. Die Dimension des Rassismus als eine diskriminierende soziale Praxis und ein damit einhergehendes Herrschaftsverhältnis, das sich in veränderter Form fortsetzt, bleibt aus dieser Perspektive unsichtbar.
Versteht man Rassismus nur als ein bestimmtes projektives Weltbild, versteht man ihn nicht gut und kann ihn am Ende nicht kritisieren.
5.2 Antisemitismus als Herrschaftsverhältnis?
Andersherum versteht die Rassismuskritik auch den Antisemitismus als ein soziales Dominanzverhältnis und als diskriminierende Praxis gegenüber Jüd_innen. Historisch kann man mit diesem Verständnis Antisemitismus tatsächlich beschreiben und erfassen. Schließlich nahm der Antisemitismus im engeren Sinne zu einer Zeit seinen Anfang, als Jüd_innen sich in größerer Zahl assimilierten, sich gesellschaftlich integrierten und aufstiegen. Entsprechend zielte er tatsächlich darauf Privilegien zu erhalten und eine aufsteigende Gruppe anders zu halten, anders zu machen und zu diskriminieren.
Jedoch erscheint der Antisemitismus vielen, die ihn aus dieser Perspektive betrachten, wiederum als Phänomen der Vergangenheit. Beispielsweise besteht in den USA in antirassistischen Kreisen die Tendenz zu betonen, dass Jüd_innen mittlerweile weiß geworden seien, heute also eher privilegierte Subjekte als marginalisierte Opfer von sozialer Diskriminierung seien.
Mit rassismuskritischen Scheuklappen betrachtet hat diese Einordnung eine hohe Plausibilität. Tatsächlich kann man – insbesondere in den USA – nicht behaupten, dass Jüdinnen eine etwa auf dem Arbeits- oder Wohnungsmarkt marginalisierte Gruppe seien. Tatsächlich besteht hier ein Zugang, der nicht schlechter ist als der weißen, angelsächsisch-protestantischen Subjekten.
Nimmt man diesen Sachverhalt aber als Grundlage für die Behauptung, es gebe keinen Antisemitismus mehr, wird er zur Ideologie. Denn auch wenn Jüd_innen in westlichen Ländern im Allgemeinen keine diskriminierte Minderheit sind, so grassieren doch antisemitische Verschwörungstheorien über sie. Sie werden weiterhin Opfer alltagsantisemitischer Ansprachen und antisemitischer Gewaltausbrüche. Der relative Emanzipationserfolg, der dazu führte, dass Jüd_innen in der Mehrheitsgesellschaft oft als weiß akzeptiert werden, wird so zum Anlass einer Entsolidarisierung von links.
Versteht man Antisemitismus nur als Differenzkonstruktion und Herrschaftsverhältnis, versteht man ihn nicht gut und kann ihn am Ende nicht kritisieren.
6 Was von der je anderen Perspektive zu lernen wäre
Beide der Perspektiven sind somit geeignet, ihr je eigenes Problem zu kritisieren, verkennen das je andere Phänomen aber grundlegend. Deshalb liegt es auf der Hand, dass beide voneinander lernen müssen. Zu lernen gibt es dabei aber nicht nur etwas über das je andere Phänomen, sondern durchaus auch über das je eigene.
6.1 Die Besonderheit des Antisemitismus und die Komplementarität von Rassismus und Antisemitismus
Von der Antisemitismuskritik zu lernen ist in erster Linie ein Blick für die Besonderheit des Antisemitismus als Projektion und Welterklärung. Erkennt man diese Besonderheiten, ist einzusehen, dass Antisemitismus als Weltbild und als Gewaltandrohung auch dann noch in Kontexten relevant bleibt, in denen Jüd_innen keine ökonomisch oder sozial diskriminierte und marginalisierte Gruppe mehr sind.
Daran anschließend sind die in der Antisemitismuskritik formulierten Hypothesen über die projektiven Dynamiken von Rassismus und Antisemitismus aufzunehmen, weil es dabei auch etwas über das Funkionieren von Rassismus zu lernen gibt. Tatsächlich wird dieses in einigen rassismuskritischen Kontexten auch so formuliert – ein Beispiel hierfür ist etwas Birgit Rommelspacher.
6.2 Die Besonderheit von Rassismus und die praktische Dimension von Rassismus und Antisemitismus
Andersherum muss die Antisemitismuskritik von der Rassismuskritik lernen, dass der Kern des Problems von Rassismus nicht im Kopf der Rassist_innen zu suchen ist, sondern in der sozialen Praxis, in Machtdifferenzialen, in der diskriminierenden Praxis und in der diskursiven Differenzkonstruktion, die all dies rechtfertigt. Dann ist einzusehen, dass es nicht nur auf die psychischen Dynamiken in den Köpfen der Subjekte ankommt, sondern auch auf den sozialen und diskursiven Kontext, in dem diese Subjekte sich bewegen, sowie auf die soziale Machtposition, aus der sie sprechen können. Die projektiven oder auch rationalen Aussagen relativ privilegierter Subjekte haben andere soziale Effekte als die relativ marginalisierter.
Entsprechend muss man einsehen, dass Rassismus auch dann noch fortbesteht, wenn offene Rassentheorien sozial weitestgehend marginalisiert sind.
Und lernt man dies alles über Rassismus, kann man von der Rassismuskritik auch etwas über die praktische Dimension des Antisemitismus lernen. Auch dieser existiert ja nicht nur in den Köpfen der Antisemit_innen, sondern auch als Alltagspraxis – als eine Alltagspraxis, von der Jüd_innen oder für Jüd_innen gehaltene Personen viel zu berichten wissen.