Eine kleine Rekonstruktion der fraglichen „Prüfung“ im BMBF

Aktuell gibt es einen Skandal, um „Prüfvorgänge“ im Bundesministerium für Bildung und Forschung. Innerhalb des Ministeriums wurde von der Leitungsebene aus eine „Prüfung“ in Auftrag gegeben. „Geprüft“ werden sollte, ob man politische Meinungsäußerungen von Wissenschaftler:innen, die der Ministeriumsleitung missfielen, strafrechtlich oder durch den Entzug von bereits bewilligten Fördermitteln sanktionieren könnte. Konkret ging es um die Unterzeichnung eines offenen Briefes gegen die polizeiliche Räumung der Freien Universität. Diese „Prüfung“ lässt insgesamt auf autoritäre Haltungen der verantwortlichen Personen schließen, die „Prüfung“ förderrechtlicher Folgen im Besonderen verweist zudem auf einen Mangel an Achtung vor der Wissenschaftsfreiheit. Beides ist im für Wissenschaft zuständigen Bundesministerium untragbar. Zwar wurde der Vorgang durch Jurist:innen im Haus schnell gestoppt – die Konsequenzen, die sich die Ministeriumsleitung vorstellte, sind rechtlich völlig unvorstellbar.

Zahlreiche Wissenschaftler:innen und Verbände fordern nun Aufklärung und Konsequenzen für die verantwortlichen Personen. Entsprechend haben die Vorgänge zu Recht einige mediale Aufmerksamkeit erregt.

Im Folgenden versuche, die aktuell zur Diskussion stehenden Abläufe kurz zu rekonstruieren.

0 Vorgeschichte

Zur Vorgeschichte gehört zunächst eine spätestens 2022 beginnenden Entfremdung zwischen der Bundesministerin und großen Teilen der wissenschaftlichen Community.

Konkreter gingen den Abläufen vier aufeinander folgende Ereignisse Anfang Mai 2024 voraus:

  • der Besetzung von FU-Gebäuden durch propalästinensische/antiisraelische Protestierende
  • der Räumung durch die Polizei
  • einem offenen Brief, in dem Hochschullehrenden gegen die Räumung Stellung beziehen
  • sehr lautstarken Vorwürfen gegen die Unterzeichner:innen des offenen Briefes, die unter anderem vonseiten der Ministerin Bettina Stark-Watzinger und ihrer Staatssekretärin Sabine Döring vorgebracht werden

Dann geht es wie folgt weiter:

1 Freitag, 10. Mai 2024, abends

Sabine Döring hat diesen im Nachhinein bedeutungsvoll scheinenden Twitter-Austausch:

2 Montag, 13. Mai 2024, morgens

Wahrscheinlich gibt es zumindest ein Telefonat zwischen der Staatssekretärin Sabine Döring und einem „zuständigen Abteilungsleiter“ (so geht es aus der internen Mail hervor, die am 14. Juni geleakt wurde). Wahrscheinlich handelt es sich um den Leiter der „Abteilung 4 – Hochschul- und Wissenschaftssystem; Bildungsfinanzierung“, Ministerialdirigent Dr. Jochen Zachgo (Organigramm des BMBF). In diesem Telefonat müsste der „Prüfauftrag“ gegeben worden sein. Döring will dabei nur eine „rechtliche Prüfung“ (wohl der Verfassungstreue und der strafrechtlichen Relevanz) in Auftrag gegeben haben, nicht aber die Prüfung förderrechtlicher Folgen. Sie habe sich allerdings unklar ausgedrückt, sodass man sie auch so habe verstehen können, als umfasse der Auftrag auch die Prüfung förderrechtlicher Folgen. Es bedarf einiger Phantasie, um sich ein solches „Missverständnis“ konkret auszumalen: Was genau könnte Döring gesagt haben, dass keine förderrechtliche Prüfung beauftragt, von ihren Untergebenen aber als ein solcher Prüfauftrag verstanden wird?

Ob Döring diesen Vorgang völlig eigenmächtig eingeleitet hat oder ob sie dies im Auftrag von oder nach Rücksprache mit Ministerin Bettina Stark-Watzinger tat, ist unklar.

3 Montag, 13 Mai 2024, morgens

Der Abteilungsleiter muss den Auftrag nach unten an Referatsleitungen weitergegeben haben, die Kommunikationsform ist unklar (Referate sind Untergliederungen von Abteilungen).

4 Montag, 13. Mai 2024, morgens, „nach 9 Uhr“ (erste Mail)

Es wird eine von drei (!) Referatsleitungen gezeichnete Mail an eine stellvertretende Referatsleitung verschickt. Darin wird explizit auch eine „förderrechtliche Bewertung“ eingefordert.

Man darf nun davon ausgehen, dass „XXX“ Sabine Döring war.

Es ist etwas unklar, wer die angeschriebene „stellvertretende Referatsleitung“ ist. Der weitere Verlauf der Kommunikation lässt vermuten, dass diese keinem der drei Referatsleitungen unterstellt ist, die die Mail gesendet haben, sondern in einem anderen Referat, vielleicht auch in einer anderen Abteilung tätig ist.

5 Montag, 13. Mai 2024, vormittags, „nach 10 Uhr“ (zweite Mail)

Es wird eine Antwortmail an eine Referatsleitung verschickt (wahrscheinlich von der beauftragten stellvertretenden Referatsleitung). Aus dieser wird die Irritation über den „Prüfauftrag“ sehr deutlich. Hier wird auch angemerkt, dass gerade die förderrechtliche Prüfung ohne Einbeziehung der wirklich zuständigen Stellen ein No-Go ist. („Sich einer Prüfung völlig zu entziehen
und darüber hinaus XXX auch noch kurzfristige Verfahrensvorgaben
(Einbindung von BMI/BMJ) machen zu wollen, kann ich leider nicht
unwidersprochen lassen.“) Zudem bezieht die Person ihre Vorgesetzten ein, vermutlich andere Referats- oder Abteilungsleitungen.

6 Montag, 13. Mai 2024, vormittags (zwischen zweiter und dritter Mail)

Nach dieser Mail müssen einige aufgeregte Kommunikationsprozesse abgelaufen sein, die sich zum jetzigen Stand nicht klar rekonstruieren lassen. Es gab mindestens ein Telefonat, das in der nächsten Mail erwähnt wird. Dieses wurde wohl geführt zwischen einer der Referatsleitungen, die die erste Mail mit dem Auftrag schrieben, und der Referatsleitung, deren Stellvertretung dabei den Auftrag erhielt. Wahrscheinlich gab es jedoch mehrere Gespräche, weil der Auftrag nicht nur erläutert, sondern substanziell verändert wird und dafür mehrere Ebenen einbezogen gewesen sein müssen. Mindestens dürfte dies der Leiter der Abteilung 4 gewesen zu sein, höchstwahrscheinlich wird hier auch die Staatssekretärin Döring wieder einbezogen. Wieder ist unklar, ob sie eigenmächtig handelt oder auch die Ministerin eingeschaltet wird.

Nun scheint allen Beteiligten zu dämmern, was für ein schwerwiegender Normverstoß die schon die bloße Prüfung eines Entzugs bereits bewilligter Forschung als Sanktionierung missliebiger Meinungsäußerungen darstellt. Zumindest ist diese Prüfung im Folgenden nicht mehr Teil des Auftrags.

7 Montag, 13 Mai 2024, vormittags, „nach 11 Uhr“ (dritte Mail)

Nun folgt die dritte geleakte Mail. Diese wird von einer Referatsleitung an eine andere Referatsleitung geschickt – vermutlich eben von einer der Referatsleitungen, die die erste Mail mit dem Auftrag schrieben, und der Referatsleitung, deren Stellvertretung den Auftrag erhielt. Darin wird der Auftrag angeblich „konkretisiert“. Diese „Konkretisierung“ ist jedoch eine substanzielle Veränderung, weil die Frage förderrechtlicher Folgen nun nicht mehr Teil der Prüfung ist.

8 Montag, 13. Mai 2024, nachmittags, „nach 15 Uhr“ und „nach 15 Uhr“ (vierte und fünfte Mail)

Es werden zwei Mails an eine Referatsleitung geschickt, vermutlich von dem mit der Prüfung beauftragten Referat an eines, von dem die erste Mail geschickt wurde. Darin das erwartbare Ergebnis: keine strafrechtliche Relevanz, kein Grund zum Zweifel an der Verfassungstreue – und keine Zuständigkeit des Ministeriums.

9 Dienstag, 11. Juni 2024, morgens, 6 Uhr

Nach vier Wochen erfolgt die Veröffentlichung der Panorama-Recherche inklusive anonymisierter geleakter Mails. Danach ist bei Twitter viel los.

10 Dienstag, 11. Juni 2024, nachmittags, 15:30 Uhr

Der Tagesspiegel veröffentlicht einen Artikel mit folgenden Äußerungen Dörings:

Auf Nachfrage des Tagesspiegels, ob Stark-Watzinger von der Prüfung gewusst und sie gebilligt habe, bestätigte die BMBF-Staatssekretärin Sabine Döring, dass es einen Prüfantrag „einzelner Aussagen im Brief auf rechtliche Aspekte hin“ im Haus gab.

Zum möglichen Entzug von Fördermitteln bei den Unterzeichnern teilte Döring mit, die Hausleitung habe „sehr zeitnah nach Erteilung des Prüfauftrags klargestellt, dass zuwendungsrechtliche Aspekte nicht Bestandteil dieser rechtlichen Prüfung sein sollen“. Indirekt bestätigte sie damit, dass die erste Prüfungsbitte auch förderrechtliche Konsequenzen beinhaltete.

Ob die Ministerin von alledem wusste, ließ Dörings Statement offen.

Tagesspiegel

11 Dienstag, 11. Juni 2024, nachmittags, 16:34 Uhr

Das Ministerium setzt ein Statement bei Twitter ab und behauptet: „Der Entzug von Fördermitteln in Reaktion auf den offenen Brief stand in der Hausleitung nicht zur Debatte.“

12 Donnerstag, 13.6 2024.

Eine „Offene Stellungnahme zum Vorgehen der Bundesbildungsministerin angesichts des offenen Briefes Berliner Hochschullehrer:innen“ wird veröffentlicht. Darin heißt es, Stark-Watzinger sei „als Ministerin für Bildung und Forschung untragbar“. Die Zahl der unterzeichnenden Wissenschaftler:innen ist von ursprünglich 800 auf mittlerweile deutlich über 2500 angewachsen. Zudem äußern sich die relevanten Verbände bzw. deren Vorsitzende irritiert bis kritisch: die Hochschulrektorenkonferenz, der deutsche Hochschulverband, die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft und die Vereinigte Dienstleistungsgewerkschaft.

13 Zwischen Dienstag, 11. Juni 2024 und Freitag 14. Juni 2024

Sabine Döring verschickt eine interne Mail, aus der table.media wie folgt zitiert:

Staatssekretärin Sabine Döring hat nun in einem internen Schreiben zu der umstrittenen hausinternen Prüfung Stellung bezogen: „Ich habe die rechtliche Prüfung des offenen Briefes im Rahmen eines Telefonats beim zuständigen Abteilungsleiter beauftragt.“ Am 13. Mail 2024 sei der Prüfauftrag von Kolleginnen und Kollegen in der Abteilung 4 durch eine E-Mail an weitere Kolleginnen und Kollegen umgesetzt worden.

„Bei der Erteilung des Auftrages hatte ich mich offenbar missverständlich ausgedrückt. Förderrechtliche Konsequenzen für die Unterzeichnerinnen und Unterzeichner des offenen Briefes prüfen zu lassen, war von mir nicht gemeint – mein Auftrag war aber wohl so zu verstehen.“

Weiter schreibt Döring: „Die Unklarheit wurde sehr zeitnah in einem weiteren Telefonat ausgeräumt, so dass dieser Aspekt dann auch kein Bestandteil der Prüfung war. Ich bedauere gleichwohl sehr, dass der offenkundig missverständliche Auftrag und die daraus resultierende Berichterstattung Sie nun alle belastet.“

table.media

Offene Fragen

Zu klären bleibt m.E. insbesondere dreierlei:

  1. Wann wusste Ministerin Stark-Watzinger was? Wie kann es sein, dass sie sich bei so schwerwiegenden Vorwürfen überhaupt nicht öffentlich äußert?
  2. Hält irgendjemand die von Staatssekretärin Döring verbreitete Darstellung für glaubwürdig, der zufolge die Prüfung eines Widerrufs bewilligter Forschungsförderung ein bloßes Missverständnis war?
  3. Stellt das offizielle ministerielle Statement vom Dienstagnachmittag, demzufolge ein Entzug von Fördermitteln „in der Hausleitung nicht zur Debatte“ stand, einen gezielten Versuch dar, die Öffentlichkeit zu täuschen? Wer übernimmt die Verantwortung hierfür?

***

Anmerkung: Auf diesen Hinweis von Álvaro Morcillo Laiz wurden der Text und die Grafik am 15. Juni um 15:35 und am 16. Juni um 14:50 angepasst.