Am Samstag durfte ich mit einem Input unter dem Titel “Demokratie in Gefahr? Standortbestimmung und Handlungsoptionen” zum diesjährigen Jahresempfang des Arbeiter-Samariter-Bund NRW beitragen. Darin gehe ich auf die Liberalisierung der Gesellschaft, die Mobilisierung am rechten Rand sowie auf Handlungsoptionen ein. Im Folgenden dokumentiere ich das Redemanuskript.
Ich muss Ihnen heute ein Wechselbad der Gefühle zumuten. Erstens werde ich darlegen, dass es Schlechtes in der Welt gibt, konkret menschenfeindliche Ideologien und menschenfeindliche Gewalt. Zweitens darf ich dann etwas Positives sagen, dass nämlich entgegen einem weit verbreiteten Eindruck nicht alles immer schlechter wird. Weder greifen Menschenfeindlichkeit und Gewalt immer weiter um sich, noch rückt die Gesellschaft insgesamt immer weiter nach rechts. Vielmehr kann man sagen, dass die deutsche Gesellschaft bei allem Schlechten, das es in ihr gibt, wohl noch nie so vielfältig, offen und liberal war wie in den letzten Jahren. Drittens muss ich leider ausführen, dass wir diesen Fortschritt keinesfalls für alle Zukunft als gegeben voraussetzen dürfen. Nicht nur, dass nicht alles von selbst immer besser wird. Es gibt auch seit Jahren eine intensive Mobilisierung am rechten Rand der Gesellschaft. Wenn diese sich weiter verstärkt, kann sie den Fortschritt rückabwickeln und die Demokratie gefährden. Viertens schließlich kann wieder etwas Positives sagen, nämlich dass es so nicht kommen muss. Wie die Zukunft in Politik und Gesellschaft aussieht, ist nie vorherbestimmt, sondern hängt immer von politischem Handeln ab – von politischem Handeln einzelner Personen und von politischem Handeln kollektiver Akteure, wie es Wohlfahrsverbände sind. Darum möchte ich zum Ende darüber sprechen, welche Handlungsmöglichkeiten wir haben.
Bevor ich uns alle in dieses Wechselbad stürze, möchte ich aber noch kurz sagen, mit welchem Thermometer ich dessen Temperatur messe. Es sind kurz gesagt die Mindestnormen einer demokratischen Gesellschaft. Demokratie, Freiheit, Gleichheit und Solidarität können nur gemeinsam, niemals getrennt voneinander existieren. Wir können unsere Gesellschaft nur dann demokratisch und solidarisch gestalten, wenn wir alle als freie und gleiche Individuen an diesem Prozess teilnehmen. Wir können als Individuen nur wirklich frei und gleich sein, wenn wir in einem demokratischen und solidarischen Gemeinwesen leben, das Freiheit und Gleichheit ermöglicht. Ein Angriff auf die Freiheit und Gleichheit einzelner ist immer auch ein Angriff auf die Demokratie und Solidarität, ein Angriff auf Demokratie und Solidarität immer auch ein Angriff auf Freiheit und Gleichheit.
Inhalt
1 Es gibt in Deutschland Menschenfeindlichkeit
Wenn man die Gesellschaft auf dieser Grundlage beurteilt, gibt es sehr vieles, das unbedingt zu kritisieren ist. Wir könnten anfangen mit einem Ausmaß an ökonomischer Ungleichheit, das nicht nur zutiefst ungerecht, sondern auch demokratiegefährdend ist. Die Möglichkeit zur demokratischen Teilhabe hängt von ökonomischen Ressourcen ab und diese sind in Deutschland in zunehmendem Maße ungleich verteilt. Wir könnten weitermachen mit der Klimakrise. Dieser begegnen Gesellschaft und Politik mit völlig unzureichenden Maßnahmen, was in Zukunft erhebliche demokratiegefährdende Verwerfungen produzieren wird.
Ich konzentriere mich heute aber auf einen anderen Problembereich, nämlich auf das, was in der deutschsprachigen Wissenschaft oft als „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ bezeichnet wird. Gemeint sind hiermit Abwertung, Hass, Diskriminierung und Gewalt gegen gesellschaftliche Minderheiten. Diese gibt es in Deutschland in erheblichem Maße – dies ist wissenschaftlich sehr gut dokumentiert. Rassismus, Antisemitismus, Sexismus, Homophobie, Transphobie, Ableismus, Sozialchauvinismus usw. sind real. Und sie führen dazu, dass die Lebenschancen erheblicher Bevölkerungsteile verschlechtert werden. Indem sie den betroffenen Gruppen somit die gleiche Freiheit verweigern, beschädigen sie auch die Demokratie.
Diese Menschenfeindlichkeit wurde in den letzten Jahren vielfach thematisiert. Die größte Sichtbarkeit erfährt dabei immer offene Gewalt. Dies geschah zum Beispiel nach der Selbstenttarnung des NSU sowie nach den rassistischen und antisemitischen Attentaten in München, Halle und Hanau. Jedoch wird auch intensiv über die nicht offen gewaltsamen Formen von Rassismus, Sexismus usw. gesprochen, zum Beispiel in Form von Einstellungen in den Köpfen, in Form von gängigen Aussagen in öffentlichem Diskurs oder Alltagssprache sowie in Form von institutionellem Handeln, z.B. in Schule und Polizei. Dann ist völlig zu Recht die Rede davon, dass es sich nicht um vereinzelte Exzesse, sondern um strukturelle Probleme handelt – dies geschah für Sexismus insbesondere in Rahmen der #metoo-Debatte, für Rassismus insbesondere in Folge des Mordes an George Floyd.
Zusätzliche Dringlichkeit erhalten die Diskussionen über Menschenfeindlichkeit seit einigen Jahren durch den Aufstieg der AfD. Der Markenkern dieser Partei ist es, all diese menschenfeindlichen Ideologien aufzugreifen, zu verbreiten und politisch zu organisieren. Damit hat sie seit Jahren erheblichen Erfolg. Es gelang ihr, als erster Rechtsaußenpartei seit Jahrzehnten in den Bundestag einzuziehen, zum Jahreswechsel 2023/24 stand sie in Umfragen sogar über 20%.
2 Die deutsche Gesellschaft ist bislang nicht insgesamt nach rechts gerückt
Dies alles hat zu der verbreiteten Auffassung geführt, die Gesellschaft insgesamt rücke immer weiter nach rechts. Rassismus, Antisemitismus, Sexismus usw. griffen immer weiter um sich und würden immer aggressiver. Nach allem, was ich gesagt habe, kann ich sehr gut verstehen, wie man zu dieser Auffassung kommt. Jedoch halte ich sie vor dem Hintergrund der verfügbaren wissenschaftlichen Daten für nicht vertretbar. Rassismus, Sexismus usw. bestehen und sie bestehen in erheblichem Ausmaß. Blickt man allerdings auf die vergangenen Jahrzehnte zurück, kann man nicht einfach behaupten, dass sie immer schlimmer würden.
Dies wissen wir für menschenfeindliche und rechtsextreme Einstellungen in den Köpfen der Menschen ziemlich eindeutig. In einer immer weiter nach Rechtsaußen rückenden Gesellschaft sollte man erwarten, dass ein immer größerer Anteil der Bevölkerung die entsprechenden Einstellungen hegt: Nationalismus, Autoritarismus, Rassismus, Sexismus, Homophobie usw. müssten sich immer weiter verbreiten. In Bielefeld und Leipzig gibt es Forschungsprojekte, die solche Einstellungen seit über 20 Jahren relativ konsistent messen. Deren Ergebnisse weisen jedoch insgesamt gerade auf keine stetige Verschiebung nach Rechtsaußen hin. Wenn man einen Trend im Langzeitverlauf sieht, dann ist es eher eine Abnahme dieser Einstellungen – zurückzuführen vor allem darauf, dass in Westdeutschland jüngere Generationen liberaler eingestellt sind als ältere.[1]
Nun mag man fragen: Kommt es denn wirklich auf das an, was im Kopf der Menschen ist? Nicht eher auf das, was sie öffentlich sagen? Und könnte es nicht sein, dass diejenigen, die diese Einstellungen hegen, sich einfach immer mehr trauen, sie auch öffentlich zu äußern, weil sie anders als früher keine Sanktionen mehr zu fürchten haben? Dies sind berechtigte Fragen und leider gibt es hier bislang keine empirischen Studien, deren Ergebnisse man einfach referieren könnte. Allerdings habe ich auch auf dieser Ebene erhebliche Zweifel daran, dass die These vom Rechtsruck hält. Ich selbst bin in den 1980ern und 1990ern einem Dorf in Mittelhessen aufgewachsen. Ich erinnere mich sehr deutlich daran, dass rassistische, antisemitische, sexistische usw. Aussagen auf dem Schulhof ungefähr so normal waren wie heute in sozialen Medien. Auch sollte man sich vergegenwärtigen, wie in Politik und Medien in den 1980ern und 1990ern über Migration und Asyl gesprochen wurde. Man sollte sich daran erinnern, dass relevante Teile der Öffentlichkeit sich noch in den 1990ern gegen das lange überfällige Gesetz ausgesprochen haben, das Vergewaltigung in der Ehe endlich strafbar machte. Und man sollte sich Bewusst sein, dass eine Erinnerungskultur, die die deutsche Verantwortung für Auschwitz ins Zentrum rückt, sich überhaupt erst seit den 1980ern etablierte und von Anfang an Angriffen ausgesetzt war.
Man könnte den Rechtsruck auch in staatlicher Politik suchen. Es gibt mindestens einen naheliegenden Bereich, in dem man tatsächlich eine Entwicklung beobachten kann, die als Rechtsruck zu beschreiben ist, nämlich die Regelung des Zugangs zum Recht auf Asyl. Hier gibt es seit den 1990ern einen kontinuierlichen Prozess der Restriktion und Verschärfung, der dazu führte, dass heute kaum noch jemand in Deutschland wirklich Asyl nach Artikel 16 bzw. 16a des Grundgesetzes erhält. Und als die Ampel-Regierung sich im vergangenen Herbst mit der Union gerade auf die nächste Verschärfung geeinigt hatte, trat Hendrik Wüst – also ein Aushängeschild des liberalen Flügels der CDU – auf die Bühne und forderte eine weitere Zuspitzung: Verfahren sollten künftig am besten außerhalb der EU durchgeführt werden. Hier bewegt sich die Gesetzgebung tatsächlich kontinuierlich in die Richtung dessen, was die AfD fordert.
Jedoch wird das Bild sehr viel weniger eindeutig, wenn man den Blick ein wenig weitet. Schaut man sich die Migrationspolitik jenseits der Frage des Zugangs zum Recht auf Asyl an, zeigt sich im selben Zeitraum – also etwa von den frühen 1990ern bis heute – ein deutlicher Liberalisierungsschub. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts herrschte in Deutschland noch weithin ein ethnischer Volksbegriff vor: Als deutsch wurde verstanden, wer deutsche Vorfahren hat, idealerweise blond und hellhäutig ist und mit Nachnamen Schmidt oder Müller heißt. Das spiegelte sich bis zur Reform unter der rot-grünen Regierung im Jahr 2000 im Staatsbürgerschaftsrecht wider und war auch in den folgenden Jahren noch die Position der Unionsparteien: Deutschland sei „kein Einwanderungsland“. Das hat sich heute deutlich geändert. Von der Linkspartei bis zur CSU sind sich alle einig, dass die Nachfahr:innen von Immigrant:innen mit dem gleichen Recht als „deutsch“ zu bezeichnen sind wie die sogenannten „Biodeutschen“.
Dabei ist es auch nicht so, dass Arbeitsmigrant:innen willkommen geheißen, aber Flüchtende ausgegrenzt würden. Auch für diejenigen, die auf der Flucht nach Deutschland gekommen sind, gilt: Wenn sie einen dauerhaften legalen Aufenthaltsstatus haben, ist es die offizielle Position des deutschen Staates, dass sie und ihre Nachkommen „integriert“ werden, also langfristig ein gleichberechtigter Teil der deutschen Gesellschaft werden sollen. Man kann sowohl an dem dabei vorherrschenden Ideal von „Integration“ als auch an der Umsetzung dieses Ideals viel kritisieren. Allerdings muss man anerkennen: Verglichen mit den 1980ern und 1990ern, als es geduldeten Flüchtlingen verboten war in Deutschland zu arbeiten oder zur Schule zu gehen, hat der deutsche Staat sich bewegt.
Bezieht man andere Politikfelder ein, bleibt das ambivalente Bild: In der Polizeigesetzgebung hat es zuletzt eine deutliche Verschiebung hin zu mehr staatlichen Zugriffsrechten und weniger individuellen Abwehrrechten gegeben; in der Familien- und Geschlechterpolitik zeigt sich eine deutliche Liberalisierung.
Als weiterer möglicher Maßstab für einen Rechtsruck kommt das politische Handeln nichtstaatlicher Akteure in Frage. Hier wird insbesondere rechte Gewalt als Beleg für den Rechtsruck genannt. Diese existiert und sie gefährdet das Leben aller Menschen, die von der extremen Rechten zu Feinden erklärt werden. Zudem ist sie – das scheint den wenigsten bewusst zu sein – in Deutschland im internationalen Vergleich ausgesprochen weit verbreitet. Allerdings gilt das seit Jahrzehnten – und das Gewaltniveau war in den 1990ern und frühen 2000ern deutlich höher als heute.
Kurzum: Der verbreitete Eindruck, demzufolge Menschenfeindlichkeit immer weiter um sich greift und die Gesellschaft immer weiter nach rechts ruckt, scheint einfach nicht zuzutreffen.
Woher kommt dann der Eindruck vom Rechtsruck? Die beste Erklärung liefert Aladdin El-Mafaalani mit dem Konzept des „Integrationsparadox“. Dieses besteht darin, dass Konflikte um Integration und Gleichberechtigung gerade dann besonders intensiv werden, wenn es Fortschritte bei Integration und Gleichberechtigung gibt. Denn dies führt auf der einen Seite dazu, dass diejenigen, die von Rassismus, Sexismus usw. betroffen sind, immer weniger bereit sind, Benachteiligungen hinzunehmen. Sie fangen völlig zu Recht an, sich deutlich schneller und deutlich lauter zu beschweren als ihre Eltern oder Großeltern – und erfahren dabei auch Unterstützung. So werden Rassismus, Sexismus usw. immer öfter problematisiert. Auf der anderen Seite führt es dazu, dass diejenigen, denen diese Veränderungen nicht passen, weil sie ihren Rassismus, Sexismus usw. nicht aufgeben wollen, umso entschlossener in die Vorwärtsverteidigung gehen und sich die Konflikte mehren. Auf diese Art wird Menschenfeindlichkeit immer sichtbarer – obwohl sie gerade nicht zunimmt.
3 Es ruckt am rechten Rand
Allerdings kann man auch nicht einfach behaupten, dass alles gut ist oder einfach immer besser wird. Wie gesagt: Rassismus, Antisemitismus, Sexismus usw. existieren. Sie verschlechtern das Leben von großen Teilen der Bevölkerung erheblich. Auch wenn ich die verstärkte Sichtbarkeit all dieser menschenfeindlichen Ideologien zunächst als ein positives Zeichen dafür werte, dass sie schwächer und angreifbarer geworden sind, sollte man nicht an die Unaufhaltbarkeit und Unumkehrbarkeit des Fortschritts glauben. Gesellschaftlicher Fortschritt geschieht nicht von selbst, sondern muss politisch erkämpft und verteidigt werden – denn er hat auch Gegner:innen.
Und diese Gegner:innen haben sich in den letzten Jahren organisiert und mobilisiert – nicht nur, aber auch in Deutschland. Die Gesellschaft rückt nicht insgesamt nach rechts, aber es ruckt am rechten Rand der Gesellschaft. Dieses Rucken ist nicht allein auf einen Akteur zurückzuführen. Es gab schon lange diverse Zuckungen – verwiesen sei zum Beispiel auf die Anti-Moscheebau-Proteste in den Nuller-Jahren oder den Erfolg von Thilo Sarrazins Deutschland schafft sich ab. Allerdings hat sich das Rucken in den letzten Jahren vor allem in einer Organisation manifestiert, nämlich der AfD. Die AfD ist eine Partei der organisierten Menschenfeindlichkeit.
Wenn Deutschland heute vielfältiger, offener und liberaler ist als je zuvor, dann steht die AfD für den Wunsch, dies rückgängig zu machen. Ihr 2021er Wahlslogan „Deutschland, aber normal“, soll genau das ausdrücken. Ihre „Normalität“ ist nichts anderes als das alte Maß an rassistischer, sexistischer usw. Ungleichheit. Auch wenn die Partei einige Positionen vertritt, die die CDU vor 20, 30 oder 40 Jahren vertrat, ist die AfD nicht einfach die alte CDU in neuem gewand. Die CDU war stets eine konservativ-demokratische Kraft, die AfD ist ein umstürzlerisch-antidemokratische. Björn Höcke ist nicht Helmut Kohl. Auch ist die Partei eindeutig keine Partei der schweigenden Mehrheit – denn ihre Anhänger:innen sind weder eine Mehrheit, noch schweigen sie. Im Gegenteil ist es die Partei einer sehr lauten Minderheit. Dass es eine Minderheit ist, zeigt sich in jeder Umfrage – auch 20% sind noch eine Minderheit. Besonders eindrucksvoll zeigte es sich bei den Demonstrationen gegen rechts Anfang des Jahres.
Allerdings ist diese Aussage einzuschränken: In einigen Gegenden ist die AfD so stark und sind die anderen Parteien so schwach, dass die organisierte Menschenfeindlichkeit Wahlen gewinnen kann. Dies gilt insbesondere in ländlichen Gebieten Ostdeutschlands.
Der Ruck am rechten Rand erzeugt einen Rechtsdruck. Andere Parteien – insbesondere, aber nicht nur die Unionsparteien – fühlen sich unter Druck, die Positionen der AfD zu übernehmen, um bei Wahlen Boden gut zu machen.
All dies kann langfristig dazu führen, dass es doch zum Rechtsruck kommt, der dann nicht nur die Fortschritte der letzten Jahrzehnte rückgängig macht, sondern auch die Demokratie selbst gefährdet. Das zeigt ein Blick in andere Länder wie z.B. Österreich, Polen, Ungarn oder die Türkei.
4 Was tun gegen das rechte Rucken?
Was können nun Individuen, was können Organisationen gegen dieses Rucken am rechten Rande tun? Ich will auf vier Möglichkeiten verweisen.
Die erste liegt mir besonders am Herzen: Auch wenn die AfD in einigen Regionen Ostdeutschlands an der Schwelle zur politischen Mehrheit steht, gibt es in diesen Regionen immer auch aufrechte Demokrat:innen, die sich zur Wehr setzen. Sie gehen genau dort auf die Straße und zeigen genau dort Gesicht, wo es anders als in Köln oder Düsseldorf wirklich Mut erfordert. Damit soll nichts gegen Demonstrationen in Köln oder Düsseldorf gesagt sein. Diese sind richtig und wichtig. Aber anders als in Pirna oder Cottbus erfordern sie keinen Mut. Diese Menschen gilt es zu stärken und zu unterstützen. Organisationen können dies tun, indem sie Ressourcen zur Verfügung stellen. Individuen können es tun, indem sie Geld spenden – zum Beispiel an das Netzwerk Polylux.
Die zweite Möglichkeit besteht darin, sich in der alltäglichen Praxis unverdrossen für Freiheit, Gleichheit, Solidarität und Demokratie, für Offenheit und Vielfalt einzusetzen – die Individuen sollten dies in ihrem Alltag einbauen, die Organisationen in ihre institutionelle Struktur. Dies heißt auch, dass diejenigen, die von Menschenfeindlichkeit betroffen sind, unterstützt werden sollten.
Die dritte Möglichkeit besteht darin, immer dann ein Nichteinverstandensein auszudrücken, wenn menschenfeindliche Ideologie geäußert wird. Organisationen sollten Leitbilder nicht nur als schöne Worte auf dem Papier vor sich hertragen. Sie sollten sie auch ernstnehmen, wenn ihnen in Wort und Tat widersprochen wird. Individuen sollten Prinzipien nicht nur alleine auf der Couch, sondern auch im Umgang mit anderen haben. Der Widerspruch sollte freilich nicht in einer Form geäußert werden, die demokratische Debatte unterbindet. Er muss auch nicht immer laut, konfrontativ, zuspitzend und abweisend sein. Häufig ist schon etwas gewonnen, wenn man anmerkt, dass man eine andere Meinung hat oder von der geäußerten Meinung überzeugt nicht ist.
Die vierte Möglichkeit besteht schließlich in der klaren Abgrenzung gegen die AfD als Partei der organisierten Menschenfeindlichkeit. Ich kann weder Individuen noch Organisationen dazu raten, sich ihre Kontakte in erster Linie anhand von Parteizugehörigkeit oder Parteineigung auszuwählen. Das würde dumm machen und es wäre undemokratisch. Allerdings kann und sollte man Grenzen ziehe. Wer die AfD als Partei der organisierten Menschenfeindlichkeit organisiert, kann nicht zugleich eine Organisation repräsentieren, die Mitmenschlichkeit repräsentieren will.
Mit allen vier Formen des Handelns, kann man alle Beteiligten daran erinnern, dass es in der Gesellschaft eine breite Mehrheit gibt, die für Offenheit und Vielfalt steht. Diejenigen, die von Rassismus, Antisemitismus, Sexismus usw. betroffen sind, sowie diejenigen, die gegen diese Ideologien kämpfen, sollten so merken, dass sie nicht allein sind. Diejenigen, die die organisierte Menschenfeindlichkeit vertreten, sollten merken, dass sie nicht die Mehrheit vertreten. Diejenigen, die Wahlen gewinnen wollen, sollten merken, dass menschenfeindliche Parolen dabei langfristig nicht helfen.
[1] Hier sind zwei Einschränkungen anzufügen: Erstens kam die Bielefelder Mitte-Studie 2023 in der Tat zu dem Ergebnis, dass menschenfeindliche Einstellungen massiv angestiegen sind. Jedoch steht dies in auffälligem Kontrast zur letzten Ausgabe der Leipziger Autoritarismusstudie, der zufolge die rechtsextremen Einstellungen in Ostdeutschland zuletzt drastisch zurückgegangen sind. Ob es wirklich einen Einstellungsumschwung oder nur Messprobleme gab, wird man erst in den nächsten Jahren entscheiden können. Zweitens zeigte sich bei den jüngsten Wahlen und Umfragen, dass die AfD auch bei auch jungen Menschen in Westdeutschland zunehmend Zustimmung findet – dies ist ein auffälliger Wandel, der erforscht werden muss.