Liebe Mit-Linke, wir müssen bei Gelegenheit mal über Demokratie reden

Liebe Mit-Linke, lasst uns bei Gelegenheit mal reden, und zwar über Demokratie.

Liebe Nicht-Mit-Linke, guckt mal da vorne, ein Eichhörnchen!

An der zögerlichen Positionierung oder völligen Nicht-Positionierung von Teilen der Linken in Deutschland wird meines Erachtens ein Defizit im Verständnis von und in der Wertschätzung für liberale Demokratie deutlich. Und das obwohl ich die meisten dabei nicht einmal für Anti-Demokrat:innen oder Gegner:innen rechtlich abgesicherter individueller Freiheit halte. Ich habe eher den Eindruck, dass es an einem positiven normativen Begriff von liberaler Demokratie mangelt.

Das könnte darauf zurückzuführen sein, dass man die meiste Zeit damit beschäftigt ist, oftmals mit guten Gründen auf die Defizite liberaler Demokratien zu verweisen. Dabei geht dann schnell unter, dass in real existierenden liberalen Demokratien (wie der BRD und in begrenztem Maße, aber mit zunehmender Tendenz auch der Ukraine) Würde und Autonomie realisiert sind und dass das ein hohes Gut ist. Sie sind bei weitem nicht in perfekter Weise realisiert (nicht in Deutschland und noch weniger in der Ukraine). Sicher sollte man auf Verhältnisse hoffen und für Verhältnisse streiten, in denen sie weitgehender realisiert werden. Aber auch in liberalen Demokratien werden sie realisiert.

Das ist kein falscher Schein und auch kein bloßes Versprechen, das irgendwann in der Zukunft mal von der Linken eingelöst werden muss und auch kein bloßer “Mindeststandard”, der gegen einen “Rückfall” verteidigt werden muss. Es ist ein positiv zu fassendes Gut. Mein Eindruck ist, dass Teile der Linken dafür keine Begriffe und davon kein Verständnis haben

Disclaimer: Worum es nicht geht

Es geht mit nicht um Bekenntnis oder Bekenntniszwang. Ich will nicht, dass „die Linke sich endlich unmissverständlich zu Freiheit und Demokratie bekennt“ oder so. Schon deshalb nicht, weil Bekenntnis so billig zu haben ist und diejenigen, die bekennen, oft auch nicht besser sind. Stattdessen geht es mir um eine inhaltliche Diskussion über den Wert von Demokratie.

Es geht mir auch nicht darum, die Linke als undemokratisch zu denunzieren oder dergleichen. Eher würde ich sagen: Keine Demokratie ohne Linke. (Und bei all dem geht es mir übrigens auch nicht zuvorderst um die Partei „Die Linke“.)

Es geht mir auch nicht darum, dass die Entgegensetzung von Demokratie und Diktatur der alleinige Schlüssel zur Erklärung oder Bewertung des gegenwärtigen Konflikts wäre. Ist sie nicht. Will man den Konflikt erklären, muss man auch über Interessen, Ideologien usw. sprechen. Will man den Konflikt bewerten, reicht es eigentlich fast aus, dass es sich um einen unprovozierten Angriffskrieg handelt. Ein Begriff von Demokratie ist nicht der Schlüssel zum Verständnis des Konflikts; er ist nur ein Schlüssel zum Verständnis des Unverständnisses einiger Linker.

Es geht mir auch nicht darum zu sagen, dass die liberaldemokratischen und kapitalistischen Gesellschaften eigentlich liberaldemokratisch und nur zufällig auch kapitalistisch sind. Es geht mir nur darum, dass auch das Gegenteil nicht wahr ist: Liberale Demokratie ist kein bloßer Schleier über einem eigentlichen kapitalistischen Kern. Linke müssen über Kapitalismus sprechen, aber sie dürfen die demokratische Frage deshalb nicht vergessen.

Worum es geht

Ein schlagendes Beispiel für das Problem sind die auch von einigen meiner Social-Media-Friends (und mehr noch von Friends of Friends) kultivierten „linken“, „materialistischen“ oder „marxistischen“ „Analysen“, denen zufolge im gegenwärtigen Krieg kritische Äquidistanz geboten sei. Im Zentrum dieser „Analysen“ steht dann zum Beispiel die „Erkenntnis“, dass die Soldat:innen beider Seiten von ihren jeweiligen „Herrschenden“ für irgendwelche materiellen Interessen benutzt würden. Mithin wird dann den Kämpfenden auf allen Seiten zur Desertion geraten.

Ich will gar nicht auf die verkürzte “ökonomische Analyse“ eingehen (oh, ist sie verkürzt). Auch nicht darauf, dass sich diese Haltung aus einer tradierten antiimperialistischen Haltung zu West und Ost speist (tut sie).

Was ich wichtiger finde: Wer so argumentiert wie oben skizziert, sieht anscheinend nicht den Unterschied zwischen beiden Seiten. Auf der einen Seite werden (zu großen Teilen wehrpflichtige) Soldat:innen von einem Diktator ohne den Ansatz eines legitimen Grundes zur Invasion in ein Nachbarland geschickt (in vielen Fällen anscheinend ohne selbst so recht darüber im Bilde zu sein). Auf der anderen Seite verteidigen Soldat:innen und Freiwillige (und leider auch zwangsweise Mobilisierte) ein unperfektes politisches Gemeinwesen, in dem sie (ausbaufähige) individuelle Freiheiten und (ausbaufähige) kollektive Mitbestimmungsrechte genießen.

Dabei kennen diese Soldat:innen und Freiwilligen aus eigener Erfahrung und durch den Blick über die Grenze nach Belarus den Unterschied zwischen dem Leben in dieser politischen Form und dem im Falle einer Niederlage anstehenden Leben unter einer Regierung von Putins Gnaden, können also vermutlich ganz gut einschätzen, ob es wert ist, dafür zu kämpfen. Und sie kennen nicht nur den Unterschied, sondern viele von ihnen haben eben diesen Unterschied durch Demokratie auf den Straßen mit herbeigeführt. Dieser Unterschied besteht in Autonomie und Würde.

(Indem man das ignoriert, ist man auch ziemlich ignorant gegenüber der Geschichte antikolonialer Kämpfe als Kämpfe um Würde und Autonomie. Man lese da mal Frantz Fanon oder Susan Buck-Morss und denke über die aktuelle Situation nach. Keine perfekte Analogie, aber wer Antiimperialist:in ist, sollte auch russischen Imperialismus als Imperialismus ernstnehmen.)

Einschränkungen

Wird das Bild getrübt durch (teils ethnischen) Nationalismus und die Situation der russischsprachigen Minderheit? Ja, wird es. Hat die ukrainische Demokratie auch nach den Standards liberaler Demokratie noch ihre Probleme? Ja, hat sie. Kann man mit guten Gründen hoffen, dass noch mehr Autonomie und Würde möglich wären als in real existierenden liberalen Demokratien? Ja, kann man. Kann man sagen, dass sich liberale Demokratien in ihrer militarisierten Außenpolitik nicht viel rücksichtsvoller verhalten als Diktaturen? Ich fürchte leider, das kann man. Wird dabei der Gegensatz von Demokratie und Diktatur zur Rechtfertigung von Krieg genutzt? Ja, leider. Sollte man deshalb vorsichtig sein, da in keine ideologische Falle zu laufen? Ja, sollte man. Kann man mit Imperialismus- und Externalisierungstheorien argumentieren, dass diese liberalen Demokratien ihre Selbstbestimmung auf Kosten anderer ausleben? Ich fürchte, man kann es.

Und doch

Aber kann man den Unterschied von Demokratie und Diktatur deshalb als falschen Schein abtun, mit dem Herrschaft nur schön verkleidet wird? Nein, kann man nicht. (Jedenfalls nicht mit guten Gründen.)

In einer Welt, in der die Ukraine durch Putin-Russland dominiert wird, ist vieles schlechter, aber nichts besser.

Und es reicht auch nicht, da mit irgendwelchen Setzungen von „Mindeststandards“ und „Rückfall“ zu operieren oder zu glauben, in liberalen Demokratien werde lediglich ein Ideal formuliert, das man dann aufgreifen und realisieren müsste. Nein, auch die Realität liberaler Demokratien hat einen intrinsischen Wert.

Und ich fürchte, zur Erfassung dieses intrinsischen Wertes haben erhebliche Teile der Linken keine Begriffe.

((Ich will den demokratischen Heroismus dabei gar nicht verherrlichen. Als jemand, der den Unterschied zwischen dem Leben in Diktatur und Demokratie nicht aus eigener Erfahrung kennt, wäre ich mir nicht so sicher, ob ich lieber mein Leben riskieren und meine Stadt zerstören lassen oder kapitulieren und mich der Diktatur fügen würde. Ich bin nur froh, nicht vor dieser Wahl zu stehen.))