Während sich die BDS-Kampagne im Vereinigten Königreich und den Vereinigten Staaten schon seit Jahren fest etabliert hat und beträchtliche Erfolge verbuchen konnte, ist sie in Deutschland erst seit 2017 in den Fokus einer breiteren Öffentlichkeit gerückt. Anlässe für die öffentliche Aufmerksamkeit in Deutschland waren Konflikte um Auftritte internationaler Künstler_innen, die BDS unterstützen: Auf die Absagen mehrerer mit BDS verbundener Künstler_innen beim Berliner Pop-Kultur Festival 2017 folgten Diskussionen um Kate Tempests abgesagten Auftritt in der Berliner Volksbühne und eine von den öffentlich-rechtlichen Sendern dann doch nicht unterstützte Deutschland-Tour von Roger Waters. Aktuell geht es um die nächste Auflage der Pop-Kultur Berlin sowie um die Ein-, Aus- und Wiedereinladung der BDS-nahen Band Young Fathers bei der Ruhrtriennale. Weil nicht damit zu rechnen ist, dass das Thema in absehbarer Zeit verschwindet, fasse ich in einer dreiteiligen Serie die Punkte zur BDS-Kampagne zusammen, die ich für die wichtigsten halte. In diesem ersten Teil geht es um die Frage, was BDS eigentlich ist: eine israelfeindliche Mitmachkampagne. Im folgenden zweiten Teil diskutiere ich, ob und inwiefern diese kampagne als antisemitisch eingestuft werden sollte. Im abschließenden dritten Teil widme ich mich der Frage nach einem angemessenen Umgang mit BDS.
(Link zu allen drei Teilen in einer PDF, Layout: druckkollektiv unterdruck)
1 Die israelische Gesellschaft boykottieren, um die Politik der Regierung zu ändern: Die Idee von BDS
BDS steht für Boycott, Divestment and Sanctions – gegen Israel. Die offizielle Idee hinter dieser sich als Bewegung verstehenden Kampagne, die seit 2001 Gestalt annimmt und 2005 offiziell ins Leben gerufen wurde, ist die Folgende: Einem verbreiteten Zerrbild folgend stellt BDS den Nahostkonflikt als ein einziges organisiertes Verbrechen dar, das Israel seit 70 Jahren einseitig an der palästinensischen Bevölkerung begehe, deren Menschenrechte es systematisch verletze. Gewalt und Verbrechen von palästinensischer Seite werden wenn überhaupt zumeist nur als legitime Gegenwehr thematisiert.
Um diesen vermeintlichen Zustand zu beenden, möchte man durch organisierten Boykott Druck auf Israel aufbauen. Der Boykott richtet sich dabei nicht nur gegen die derzeitige israelische Regierung und auch nicht nur gegen den israelischen Staat und seine Institutionen, sondern immer wieder auch gegen die israelische Gesellschaft als ganze (zumindest gegen den jüdischen, weniger gegen den arabischen Teil): gegen Unternehmen, Universitäten, Institute, Kulturprojekte und die daran beteiligten Einzelpersonen und somit letztlich auch gegen israelische Bürger_innen.
Die so erreichte internationale Isolation soll die betroffenen (jüdisch-)israelischen Bürger_innen und Institutionen dazu bewegen, Druck auf ihre Regierung aufzubauen, und über diesen Umweg eine Änderung der israelischen Politik sowie einen effektiven Schutz der Menschenrechte von Palästinenser_innen im Kernland Israel, in Westjordanland und Gazastreifen sowie in der Diaspora bewirken.
Die historische Referenz, die für diese Boykottaktion von den Befürworter_innen am häufigsten genannt wird, sind vergleichbare Kampagnen gegen Südafrika zur Zeit der Apartheid.
2 Keine feste Organisation, sondern ein loses Netzwerk: Die Struktur von BDS
BDS agiert nicht als zentral geführte hierarchische Organisation, sondern als ein relativ lose koordiniertes Netzwerk aus verschiedenen nationalen, regionalen und lokalen Komitees und Gruppen, die sich BDS anschließen können, ohne dafür einen Antrag stellen zu müssen. Entsprechend gibt es keine formale Mitgliedschaft. Vielmehr reicht es aus, wenn die Gruppen mitmachen, indem sie sich zu den radikal, aber doch vage formulierten Zielen von BDS (s.u.) bekennen und entsprechend handeln.
Das Agieren dieser Gruppen besteht wesentlich darin, dass sie ihre verzerrte Interpretation des Konflikts verbreiten und versuchen, verschiedene Akteur_innen zur Beteiligung am Boykott gegen Israel zu bewegen. Dies geschieht, indem ganze akademische Fachverbände und Universitäten insbesondere in den USA und dem Vereinigten Königreich zum Boykott israelischer Universitäten und Akademiker_innen bewegt werden; es geschieht (auch in Deutschland), indem der Verkauf israelischer Waren im Einzelhandel skandalisiert wird; es geschieht (in Großbritannien), indem Gewerkschaften und zeitweise ganze Kommunen auf den Boykott-Kurs eingeschworen wurden; und es geschieht, indem Künstler_innen, die Auftritte in Israel planen, öffentlich unter Druck gesetzt werden, diese abzusagen.
Bei aller Heterogenität und Internationalität sind für die Außendarstellung und die inhaltliche Ausrichtung doch zwei eng verbundene Gruppierungen mit Sitz in Ramallah besonders wichtig, nämlich die Palestinian Campaign for the Academic and Cultural Boycott of Israel (PACBI) und das Palestinian BDS National Committee (BNC), an dem PACBI beteiligt ist. Beide sind repräsentiert auf der Website www.bdsmovement.net, auf der BDS-Aktivist_innen antiisraelische Propaganda verbreiten und über BDS-Aktivitäten in aller Welt berichten. Die prominenteste mit beiden Organisationen verbundene Person und somit auch das sichtbarste palästinensische Gesicht der Kampagne ist der in Qatar geborene palästinensischstämmige Aktivist Omar Barghouti.
Der genaue Umfang des geforderten Boykotts variiert von Akteur_in zu Akteur_in. In einigen Fällen gilt er für die ganze israelische Gesellschaft, in anderen nur für die israelischen Unternehmen und Organisationen in den 1967 besetzten Gebieten, also im Westjordanland und auf den Golanhöhen. In einigen Fällen sind diejenigen ausgenommen, die sich selbst explizit gegen die israelische Regierung und die Politik in den besetzten Gebieten bekennen (ohne dass je klar würde, wie dieses Bekenntnis aussehen soll und wer es beurteilt), in anderen nicht. In einigen Fällen (wie bei der Pop Kultur 2017) geht es spezifisch um Institutionen des israelischen Staates, in vielen anderen Fällen auch um nicht-staatliche Akteur_innen. In einigen Fällen sind auch Jüd_innen ohne konkreten Bezug zu Israel betroffen.
3 Eine Unterstützung für BDS ist eine politische Entscheidung, keine bloße solidarische Reaktion auf einen Hilferuf „der palästinensischen Zivilgesellschaft“
Für das Selbstverständnis und die Selbstrechtfertigung der Kampagne ist die Behauptung wichtig, dass BDS auf einen Aufruf aus der palästinensischen Zivilgesellschaft zurückgehe. Eine solche Erzählung verleiht Legitimität, denn die Boykottaktion erscheint damit nicht als ein politischer Willkürakt internationaler Aktivist_innen gegen Israel, sondern als solidarische Reaktion auf einen Hilferuf einer unterdrückten Gruppe.
Jedoch ist diese Selbstdarstellung höchst zweifelhaft. Zwar knüpft BDS inhaltlich durchaus an die schon vor der Gründung Israels begonnene arabische Boykottpolitik sowie an die zeitweise von allen arabischen Staaten vertretene Isolationspolitik (kein Friede mit Israel, keine Anerkennung Israels, keine Verhandlungen mit Israel) an. In der 2001 beginnenden Gründungsgeschichte der Kampagne selbst spielen internationale (insb. britische und US-amerikanische) Aktivist_innen aber eine mindestens so große Rolle wie die palästinensischen, die 2005 schließlich den Gründungsaufruf veröffentlichten.
Wichtig ist vor allem, dass anders als teilweise behauptet keinesfalls die palästinensische Zivilgesellschaft als solche einen völligen Boykott Israels fordert oder stützt. Auch wenn relevante Teile der der palästinensischen Bevölkerung und Gesellschaft in den Autonomiegebieten den Boykott befürworten, stehen ihnen ebenso wichtige Stimmen gegenüber, die den ökonomischen, kulturellen und akademischen Austausch mit Israel für bewahrenswert halten – auch die Führung der Autonomiebehörde um Mahmud Abbas lehnt einen generellen Boykott ab. Dies verwundert kaum, denn dieser Austausch ist für das ökonomische, kulturelle und akademische Leben in den Autonomiegebieten unabdingbar.
Die Mehrheitsverhältnisse in der Bevölkerung von Westjordanland und Gazastreifen sind unklar: Einer Befragung der israelischen Geocartography Knowledge Group aus dem Jahr 2011 zufolge befürworten 85% der Bewohner_innen des Westjordanlands einen fortgesetzten Austausch mit Israel. Zwei palästinensische Organisationen kommen zu anderen, aber auch sehr unterschiedlichen Ergebnissen: das PCPSR maß im April 2015 eine Zustimmungsrate zur BDS-Kampagne von 85%; das JMCC kam dagegen im März desselben Jahres auf eine Zustimmungsrate zum Totalboykott von nur 59,2%, die fünf Monate später auf 49,1% zurückgegangen war.
Unabhängig davon, welche Zahlen richtig sind, ist klar: Wer in westlichen Ländern BDS unterstützt, folgt nicht einfach einem Hilferuf „der palästinensischen Zivilgesellschaft“, sondern positioniert sich in einer innerpalästinensisch umstrittenen Frage auf Seiten der radikaler antiisraelischen Kräfte.
4 Nicht „kritisch“, sondern feindlich: Die Ziele von BDS
Weil BDS keine hierarchische Organisation ist, sind die inhaltlichen Positionen der verschiedenen Akteur_innen auch von einer gewissen Heterogenität und Unverbindlichkeit geprägt. Nichtsdestotrotz bekennt sich, wer sich zu BDS bekennt, direkt oder indirekt auch zu den drei zumindest der Form nach an Israel gerichteten Kernforderungen, die im BDS-Gründungsaufruf aus dem Jahr 2005 formuliert werden. Anhand dieser Forderungen lassen sich sowohl der nicht „israelkritische“, sondern israelfeindliche Gehalt von BDS als auch die Strategie, diesen Gehalt durch Vagheit und Verneblung zu kaschieren, ablesen:
1. Ending its occupation and colonization of all Arab lands and dismantling the Wall;
2. Recognizing the fundamental rights of the Arab-Palestinian citizens of Israel to full equality; and
3. Respecting, protecting and promoting the rights of Palestinian refugees to return to their homes and properties as stipulated in UN resolution 194.
Ad 1: Ending its occupation and colonization of all Arab lands and dismantling the Wall
Die erste Forderung ist an Vagheit kaum zu überbieten. Das Ende der „Besatzung und Kolonisierung allen arabischen Landes“ kann alles Mögliche bedeuten, denn weder „Besatzung und Kolonisierung“ noch „arabisches Land“ werden klar definiert. Somit könnte diese Forderung erstens lediglich heißen, dass kein weiterer Siedlungsausbau im Westjordanland stattfinden soll; sie könnte zweitens heißen, dass, wie es in den Friedensverhandlungen der letzten Jahrzehnte üblich ist, die Grenzen von vor 1967 Basis eines Friedens zwischen zwei Staaten sein sollen; sie könnte drittens heißen, dass die (nicht verteidigbaren) Grenzen des UN-Teilungsplans von 1947 hergestellt werden sollen; sie könnte viertens heißen, dass jegliche auf den im späten 19. Jahrhundert einsetzenden Zionismus zurückgehende jüdische Präsenz im nahen Osten ein Ende finden soll. Die Forderung könnte auf eine Zweistaatenlösung, auf eine binationale Einstaatenlösung oder auf einen arabisch-palästinensischen Staat ohne jede jüdisch-israelische Identität hinauslaufen.[1]
Diese Vagheit erlaubt es, dass sowohl radikale als auch liberale Akteur_innen sich mit dem Aufruf identifizieren können, wenn sie denn nicht allzu kritisch nachfragen. Tendenziell zeichnen sich die palästinensischen Akteur_innen eher dadurch aus, dass sie radikalere Interpretationen befürworten: Der oben erwähnte Omar Bargouti weist die Idee eines jüdisch-israelischen Anspruchs auf nationale Selbstbestimmung im nahen Osten zurück und lehnt entsprechend sowohl eine Zweistaatenlösung als auch einen dezidiert binationalen Staat ab. Stattdessen fordert er einen Staat ohne jüdisch-israelische Identität auf dem gesamten Gebiet (in dem die israelischen Jüd_innen aber gleichberechtigt leben dürfen sollen, auch wenn er sich an anderen Stellen sehr offen über die Idee eine jüdische Auswanderung nach Europa sprach). Linksliberale Künstler_innen aus dem Westen gehen dagegen oftmals eher davon aus, dass sie sich für eine Zweistaatenlösung in den Grenzen von 1967 oder eine friedlich-binationale Einstaatenlösung engagieren.
Genau diese Unklarheit ist ein zentrales Kennzeichen von BDS. Sie führt dazu, dass auch relativ gemäßigte Akteur_innen eine in letzter Konsequenz sehr radikale Agenda unterstützen.
Die ebenfalls im ersten Punkt gestellte Forderung nach einem Abriss der Mauer zwischen Israel und Westjordanland zeigt die völlige Einseitigkeit der BDS-Perspektive. Sicherlich wäre eine Welt ohne Grenzmauern abstrakt gedacht wünschenswert. Sicherlich kann man am konkreten Verlauf der Grenzmauer, der an mehreren Stellen jenseits der Grenzen von 1967 liegt, begründet Kritik üben. Ebenso kann man die Beschwernisse und Ungerechtigkeiten skandalisieren, die die israelische Politik im Allgemeinen und die Mauer im Besonderen für die palästinensische Bevölkerung in Westjordanland und Gazastreifen bedeuten.
Allerdings sollte man doch zumindest erwähnen, dass die Mauer ab 2002 in direkter Reaktion auf die Welle von Selbstmordattentaten während der Al-Aqsa-Intifada errichtet wurde, bei der zahlreiche Attentäter aus dem Westjordanland nach Israel eindrangen und dort hunderte israelischer Zivilist_innen töteten. Ebenso sollte man erwähnen, dass die Zahl der Attentate seit der Errichtung der Mauer (aus verschiedenen Gründen) tatsächlich rapide zurückging. Kurzum sollte man erwähnen, dass Israel berechtigte Sicherheitsinteressen hat und der Mauerbau nur unter Berücksichtigung dieser Interessen verstanden werden kann.
Dass der Boykottaufruf den Abriss der Mauer fordert, diesen Kontext aber auslässt ist paradigmatisch für BDS: Handlungen Israels werden grundsätzlich nicht als Reaktionen auf palästinensische oder arabische Handlungen und somit als Teil einer wechselseitigen Dynamik dargestellt, sondern als einseitige, unprovozierte und systematische Gewalt israelischer Täter_innen gegen palästinensische Opfer.
Ad 2: Recognizing the fundamental rights of the Arab-Palestinian citizens of Israel to full equality
Diese Forderung scheint auf den ersten Blick völlig unkontrovers – wer wäre schon dagegen, dass eine Regierung das Grundrecht auf Gleichheit aller Bürger_innen anerkennt? Mindestens kurios wirkt die Forderung dagegen, wenn man sie mit den realen Ausmaßen des Problems in Beziehung setzt, das dabei scheinbar angegangen wird. Es geht in dieser zweiten Forderung anders als in der ersten nicht um die Bevölkerung des Westjordanlands und des Gazastreifens, sondern um die arabisch-palästinensischen Bürger_innen des Kernlandes Israel.
Es steht außer Frage, dass es in Israel strukturelle Diskriminierung in Gesellschaft und staatlichen Institutionen gibt – sowohl gegen arabische als auch gegen schwarze Einwohner_innen. Solche Diskriminierung gibt es in allen modernen Gesellschaften und ein jahrzehntelanger bewaffneter Konflikt trägt fast zwangsläufig zu ihrer Verschärfung bei. Das jüngste Nationalitätengesetz ist sowohl als Ausdruck als auch als Zuspitzung dieses Problems zu verstehen.
Jedoch ist es keinesfalls so, dass der israelische Staat seinen arabisch-palästinensischen Bürger_innen die Anerkennung ihrer Grundrechte oder ihrer rechtlichen Gleichheit verweigerte – im Gegenteil wird die rechtliche Gleichheit aller Bürger_innen seit der Unabhängigkeit immer wieder betont. Blickt man auf die formalen rechtlichen Einschränkungen, die arabisch-palästinensische Bürger_innen Israels gegenüber jüdischen (und drusischen und tscherkessischen) Bürger_innen zu erleiden haben, sind diese relativ wenig ausgeprägt und bestehen wesentlich darin, dass die arabische Minderheit von der Wehrpflicht und damit von den sich aus deren Ableistung ergebenden Privilegien ausgenommen ist. Darüber hinaus führt das neue Nationalitätengesetz – wenn es in Kraft tritt – dazu, dass ihre Sprache nicht mehr Amtssprache ist und ein weitergehender Ausschluss auf der symbolischen Ebene stattfindet.
Vor diesem Hintergrund wirkt die zweite BDS-Forderung schräg: Auf der symbolischen Ebene ist der Staat Israel eindeutig jüdisch und der gelebten sozialen sowie institutionellen Alltag bringt zahlreiche Diskriminierungen gegen arabische Israelis hervor. Das von BDS geforderte Grundrecht auf Gleichheit der arabischen Bürger_innen Israels ist jedoch schon längst formal anerkannt. Das Problem des israelischen Staates in Bezug auf seine arabische Bürger_innen ist weniger, dass er ihr Grundrecht auf Gleichheit nicht anerkennte, sondern dass er die realen Diskriminierungen nicht ernsthaft genug als Problem annimmt.
Es gibt gute Gründe die bestehenden Diskriminierungen in Israel zu skandalisieren. Jedoch sollten entsprechende Forderungen nicht so formuliert sein, dass sie ein falsches Bild – nämlich das einer Nichtanerkennung von Grundrechten – suggerieren. Vor allem sollten Skandalon und Skandalisierung in einem angemessenen Verhältnis stehen: Die Diskriminierung, die arabische Israelis erleiden müssen, sind gemessen an der Situation von nationalen Minderheiten in anderen Ländern relativ gering – und erst recht gemessen an der Situation schwarzer Südafrikaner_innen während der Apartheid. Tatsächlich gibt es kein arabisches Land, in dem arabische Bürger_innen so umfangreiche individuelle Abwehr- und demokratische Mitbestimmungsrechte genießen wie in Israel. Daher können die Diskriminierungen in Israel kaum eine Rechtfertigung für eine im Umfang gegenwärtig einmalige Boykottkampagne sein – das ist kein Whataboutism, sondern eine Kohärenzprüfung.
Ad 3: Respecting, protecting and promoting the rights of Palestinian refugees to return to their homes and properties as stipulated in UN resolution 194
Auch die Forderung, dass Menschen, die zur Flucht gezwungen wurden, ein Recht auf Rückkehr haben sollten, ist abstrakt betrachtet kaum kontrovers. Die von BDS gewählte Formulierung fordert jedoch unter diesem unkontroversen Deckmantel faktisch etwas ganz anderes, nämlich das Ende Israels.
Will man die Besonderheit der „palästinensischen Flüchtlingsfrage“ einschätzen, ist zunächst ist der historische Kontext zu beachten. Ende der 1940er waren zig Millionen von Menschen in verschiedenen Teilen der Welt auf der Flucht. Der zweite Weltkrieg war gerade zu Ende und die Dekolonisierung in vollem Gange, neue Nationalstaaten wurden gegründet und die Grenzen bestehender Staaten wurden neu gezogen. Sowohl Kriege als auch Staatsgründungen und Grenzverschiebungen gehen immer wieder mit Homogenisierungen, Vertreibungen und Massenflucht einher.
Am dramatischsten war die Situation Ende der 1940er in Südasien, wo das Vereinigte Königreich entschieden hatte, seine indische Kronkolonie in das überwiegend muslimische Pakistan sowie das überwiegend hinduistische Indien aufzuteilen und in die Unabhängigkeit zu entlassen – auf beiden Seiten der neugezogenen Grenzen folgten Prozesse gewaltsamer Homogenisierung, Vertreibung und Flucht. Die Schätzungen über die Zahl der Todesopfer bewegen sich zwischen einigen Hunderttausend und zwei Millionen, die Zahl der Vertriebenen wird auf über 14 Millionen geschätzt.
Auch die Gründung Israels und mehrerer arabischer Staaten in den zuvor britisch und französisch beherrschten Ländern der MENA-Region ging mit nationaler Homogenisierung, Vertreibung und Flucht einher – insbesondere mit einer Flucht von Jüd_innen aus arabischen Staaten nach Israel sowie mit einer Flucht von arabischen Palästinenser_innen aus Israel in arabische Staaten.
Dabei waren an den jeweiligen Bewegungen durchaus beide Seiten beteiligt. Das sich gründende Israel hatte ein Interesse daran, dass Jüd_innen dorthin kamen und sich am Aufbau des Staates beteiligten, sodass arabische Vertreibungen und zionistische Anwerbung Hand in Hand gingen. Die arabische Seite wiederum hatte ein Interesse daran, Israel als möglichst grausam erscheinen zu lassen, sodass reale israelische Gewalt übertrieben dargestellt und die vertreibungsbedingte Fluchtbewegung weiter angeheizt wurde – ebenso wie mit dem Versprechen anschließend in ein durch die arabischen Armeen befreites Palästina zurückkehren zu können.
Nichts davon ist einzigartig. Einzigartig ist aber, dass sich Flüchtlingsstatus palästinensischer Flüchtlinge auf die nachkommenden Generationen übergeht. So spielt heute bei allen Spannungen zwischen Pakistan und Indien eine aus der Trennung von 1947 folgende „Flüchtlingsfrage“ keine Rolle. Vielmehr sind die damals migrierten Bevölkerungsteile und ihre Nachkommen heute überwiegend Bürger_innen des Landes, in dem sie ankamen. Im Nahostkonflikt hat sich die Zahl der palästinensischen „Flüchtlinge“ dagegen von ursprünglich ca. 700.000 auf ca. 5 Millionen versiebenfacht. Dies geschah nicht etwas weil Israel weitere Millionen vertrieben hätte (auch wenn während des Sechstagekrieges 1967 ca. 300.000 hinzukamen), sondern weil die Nachkommen der real Geflüchteten auch noch als „palästinensische Flüchtlinge“ gelten – was in der Tat einmalig ist.
Dies hat politische Gründe und politische Konsequenzen, die sich auf das Leben der betroffenen Personen massiv auswirken. Insbesondere geht dieser Sachverhalt darauf zurück, dass die meisten arabischen Staaten, die Flüchtlinge aufgenommen haben, kaum ein Interesse an ihrer Integration als Staatsbürger_innen zeigten. Vielmehr sollten die Geflüchteten als dezidiert palästinensische Gruppe erhalten bleiben, um eine Lösung des Konfliktes, bei der Israel als jüdischer Staat fortbesteht, zu erschweren.
Die „Flüchtlingslager“, in denen etwa ein Drittel der als „palästinensische Flüchtlinge“ definierten Gruppe noch heute lebt, sind längst keine Zeltlager mehr, sondern Städte oder Stadtteile in den palästinensischen Autonomiegebieten und in benachbarten arabischen Staaten. Gleichsam sind die „Flüchtlinge“ in- und außerhalb dieser „Lager“ zu großen Teilen keine gleichberechtigten Bürger_innen, sondern eine immer wieder Diskriminierung und Gewalt ausgesetzte Minderheit.
Es steht außer Frage, dass eine „Lösung“ des Konflikts auch eine Lösung für diese Gruppe umfassen muss – so heißt es auch in Resolution 242 des UN-Sicherheitsrates aus dem Jahr 1967, dass für sie eine „gerechte Regelung“ gefunden werden müsse. Die Forderung nach einer „gerechten Regelung“ scheint den Verfassern des BDS-Aufrufs aber nicht zu gereicht zu haben – obwohl es ihnen angeblich doch immer nur um die Menschenrechte geht. Jedenfalls berufen sie sich nicht auf diese völkerrechtlich verbindliche Sicherheitsratsresolution 242, sondern auf die zwei Jahrzehnte ältere, völkerrechtlich unverbindliche Resolution 194 der Generalversammlung aus dem Jahr 1948, die (der palästinensischen Interpretation nach) ein volles Rückkehrrecht aller Flüchtlinge vorsieht – und nach BDS-Lesart sind dies eben nicht nur die wenigen Tausend von den 700.000, die noch leben, sondern alle 5 Millionen. Jedoch ist das „Recht“, in das Land „zurückzukehren“, aus dem die Urgroßeltern geflüchtet sind, kein „Menschenrecht“.
Wer diese Forderung erhebt, macht zweierlei klar: Erstens steht außer Frage, dass diese Forderung auf das Ende Israels hinausläuft. Denn obwohl kaum alle fünf Millionen nach Israel auswandern würden, wenn sie das Recht dazu hätten, wäre schon eine Million für ein kleines Land wie Israel (Bevölkerung 8,4 Millionen) kaum zu handhaben. Zweitens ist damit klar, dass man eine unerfüllbare Forderung stellt und ergo gar nicht wirklich will, dass Israel die Forderungen überhaupt jemals erfüllt, die man öffentlich an es richtet.
Und genau das kennzeichnet das Handeln von BDS: Die Kampagne konfrontiert Israel mit Forderungen, die auf den ersten Blick moralisch plausibel scheinen, im Endeffekt aber unerfüllbar sind, um so seine Legitimität als Staat zu untergraben.
5 Ist der Totalboykott einer ganzen Gesellschaft ein gewaltfreier Weg zum Frieden? Die Mittel von BDS
BDS sieht sich in der Tradition gewaltfreier Protestbewegungen und betont das „Recht“ auf Boykott als gewaltfreies Mittel gegen Unterdrückung. Jedoch ist die Kategorisierung des international organisierten umfassenden Boykotts einer ganzen Gesellschaft als „gewaltfrei“ sehr zweifelhaft. Jede Gesellschaft ist ökonomisch, politisch und kulturell auf internationalen Austausch angewiesen – der Versuch, einem Land diesen Austausch zu entziehen, bedroht dementsprechend das soziale Leben dort. Das mag als Mittel im Krieg legitim sein, aber es ist nicht gewaltfrei.
Der Totalboykott, für den BDS steht, ist gewissermaßen das Gegenteil von „Smart Sanctions“, mit denen versucht wird, Druck auf politische Entscheidungsträger_innen auszuüben, ohne negative Konsequenzen für die breite Bevölkerung zu produzieren: Die negativen Konsequenzen für die Bevölkerung sind für BDS der bewusst gewählte Hebelpunkt, um Druck auf politische Entscheidungsträger_innen auszuüben.
Ebenso zweifelhaft ist die Vorstellung, dass kulturelle und ökonomische Isolation zu Frieden führen könnten. Es ist beileibe nicht garantiert, dass Handel und kultureller Austausch zu friedlicher Koexistenz führen. Die einseitige Isolation einer ganzen Gesellschaft wird aber mit Sicherheit nicht dazu führen, dass mehr wechselseitiges Verständnis oder Frieden entstehen.
Anmerkungen:
[1] Ergänzt am 19.8.2018: In einer deutschsprachigen Erklärung des BNC an den Stadtrat München heißt es, in Punkt 1 des Gründungsaufrufs seien die Grenzen von 1967 seien gemeint. Dies wirft freilich die Frage auf, warum man in der von erfahrenen Aktivist_innen mit einigem Vorlauf verfassten Gründungserklärung eine so vage Formulierung wählte. Man müsste ziemlich naiv sein, um dies für einen Unfall zu halten.