Am 25. Mai 2019 hielt ich im Rahmen der Ringvorlesung „Gesellschaft im Stresstest“ in Tübingen gemeinsam mit Matthias Möhring-Hesse einen Vortrag. Ich ging dabei auf die Positionen rechtspopulistischer Parteien zu wirtschafts- und sozialpolitischen Themen ein, er darauf, was es bedeutet „die soziale Frage“ zu stellen, und wie die aktuelle Positionierung der AfD vor dem Hintergrund des deutschen Wohlfahrtsstaats, seiner Struktur und seiner Transformationen zu erklären ist. Der folgenden Text basiert auf dem Manuskript zu meinen Abschnitten der Vorlesung. Die Empirie zeigt, dass die Rechtsparteien in sozioökonomischen Fragen sehr heterogen aufgestellt sind. Dies erkläre ich dadurch, dass sie in diesen Fragen ideologisch flexibel sind, weil ihr Markenkern durch andere, eher soziokulturelle Fragen definiert ist.
Zum Einstieg möchte ich Ihnen ein Video zeigen, das sie in einer früheren Sitzung der Ringvorlesung bereits gesehen haben. Es handelt sich um die weithin diskutierten Ausschnitte aus Alice Weidels Rede im Rahmen der Haushaltsdebatte des Deutschen Bundestages im Mai 2018. Jedoch möchten wir heute einen anderen Aspekt hervorheben als sonst üblich, nämlich das Verhältnis zum Wohlfahrtsstaat, in das Weidel sich hier setzt (ab Min 4:46).
Es ist relativ offensichtlich, dass im Video hetzerische Aussagen gegen Minderheiten zu sehen sind und genau dafür erhielt Weidel auch eine formale Rüge von Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble. Etwas weniger offensichtlich, aber doch erkennbar ist das Aufscheinen familiaristischer Ideologie, denn Weidels Argumentation läuft implizit auf die Forderung hinaus, dass der Staat die Reproduktion deutscher Familien durch Geburt fördern soll. Rassismus und Familiarismus sind Kernaspekte rechter Ideologie und in gewisser Hinsicht „wichtiger“ als das Thema der heutigen Vorlesung – denn es sind gerade diese Ideologeme der Ungleichheit, die rechte Ideologie zu einem Problem für Demokratie und Emanzipation machen. Will man aber die Ideologie als ganze verstehen und kritisieren, gilt es auch die Aspekte zu betrachten, die heute Abend im Mittelpunkt stehen, nämlich die sozial- und wirtschaftspolitischen Positionen.
Schaut man sich das Video unter diesen Gesichtspunkten an, ist viererlei festzuhalten. Erstens sind Weidels Bezugnahmen auf den Wohlfahrtsstaat zwar ambivalent, aber implizit doch bejahend; er wird zwar zunächst als Kostenfaktor genannt, aber seine Erhaltung und Finanzierung werden doch als wünschenswert oder zumindest notwendig dargestellt. Zweitens geht dies einher mit erkennbaren Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit und Solidarität; wenn Weidel skandalisiert, dass ein ehemaliger Bergbau- und Automobilarbeiter heute von Grundsicherung leben muss, spricht sie damit ein verletztes Gerechtigkeitsempfinden an, das sie implizit teilt. Drittens geht diese Vorstellung von sozialer Gerechtigkeit und Solidarität aber auch mit einer Differenzierung zwischen Subjekten einher, die wohlfahrtsstaatliche Leistungen entweder verdienen oder eben nicht. Diese Unterscheidung ist in der Erzählung doppelt bestimmt: Einerseits unterscheidet Weidel einen Mann, der sein Leben lang hart gearbeitet und Sozialbeiträge gezahlt hat von einem Mann, der mutmaßlich in schwere Verbrechen verwickelt war und nichts zur Finanzierung des Sozialstaates beigetragen hat. Andererseits ist diese Unterscheidung durch die Vornamen nicht zufällig als die zwischen einem ethnisch Deutschen und einem rassifizierten Subjekt markiert. Beide Differenzen scheinen in eins zu fallen. Viertens schließlich fällt in der Rede auch eine Unterscheidung zwischen leistungsfähigen und leistungsunfähigen Subjekten auf: Einige seien für die zukünftige Finanzierung des Wohlfahrtsstaates zu gebrauchen, andere nicht – auch diese Unterscheidung formuliert Weidel ethnisierend bzw. rassifizierend.
Somit verweist diese Rede einerseits darauf, dass die rechtspopulistische Thematisierung des Wohlfahrtsstaates rassistisch ist; sie verweist aber andersherum auch darauf, dass der rechtspopulistische Rassismus heute in einigen Fällen mit einem positiven Bezug auf den Wohlfahrtsstaat formuliert wird, der gegen Migration verteidigt werden soll. Und um genau dieses Zusammentreten von Rassismus und Wohlfahrtsstaatlichkeit geht es, wenn von Wohlfahrtschauvinismus und exkludierender Solidarität die Rede ist.
Inhalt
Drei Beispiele für rechtspopulistischen Wohlstandschauvinismus
Wie ich nun anhand von drei Beispielen demonstrieren möchte, ist Weidels Rede kein einsamer Ausreißer.
Deutschland und Österreich
Zunächst möchte ich auf den Titel unserer heutigen Vorlesung zurückkommen: „Unser Geld für unsre Leut‘!“
Dieser Slogan wurde in Deutschland von der bayrischen Alternative für Deutschland benutzt. Wie Sie sehen, sind auf dem entsprechenden Bild ein älterer Herr und eine ältere Dame zu sehen – vermutlich ein Rentner_innenpaar –, oben steht die Forderung „Sozialsysteme schützen!“ Diese beiden Elemente könnten für sich genommen noch als bloße Positionierung für Wohlfahrtsstaatlichkeit durchgehen. Die Positionierung wird aber eben durch den Satz „Unser Geld für unsere Leut‘“ deutlich modifiziert: Dieser Satz macht nur Sinn, wenn man Menschheit in „unsre Leut‘“ und „nicht unsre Leut‘“ bzw. „andre Leut‘“ unterscheidet, wobei nur die ersteren etwas von „unsrem Geld“ abbekommen sollen. Da der Kontext fast jeder AfD-Mobilisierung in den letzten Jahren die Fluchtmigration der Jahre 2015 und 2016 war, dürfte den meisten Betrachter_innen klar sein, dass mit den implizit angesprochenen „andren Leut‘“ insbesondere „die Flüchtlinge“ gemeint sind.
Diesen Slogan hat sich die AfD wohlgemerkt nicht ausgedacht, sondern von der Freiheitlichen Partei Österreichs abgeschaut, die ihn mehrfach verwendete. Unten links sehen Sie den ehemaligen Parteichef Heinz-Christian Strache vor einem entsprechenden Banner. Unten rechts sehen Sie ein älteres Wahlkampfplakat, auf dem der Slogan bereits auftauchte. Hier war der Kontext noch ein deutlich anderer: Es ging nicht um Migration, sondern um die sogenannte „Eurorettungspolitik“; die „andren Leut‘“, die „unser Geld“ unverdienterweise erhalten, waren hier nicht „die Flüchtlinge“, sondern „die Griechen“, die faul und gierig in der von uns finanzierten sozialen Hängematte entspannen. Wiederum ist impliziert, dass sich die Mobilisierung nicht gegen jede Form von sozialer Transferleistung gerichtet ist. Wichtig ist nur, dass das Geld bei den Leuten ankommen, die es verdienen – einerseits, weil es „unsre Leut‘“ sind, andererseits, weil sie nicht faul und gierig herumliegen.
Frankreich
Im zweiten Beispiel geht es um das Programm, mit dem eine Partei 2017 in einen großen Wahlkampf zog. Gefordert wurden in diesem Programm unter anderem:
- Steuererhöhungen für Reiche und Unternehmen
- die Teilverstaatlichung von Banken
- die Erhöhung des Mindestlohns
- die Einführung einer Preiskontrolle
- der Ausbau des öffentlichen Dienstes
- die Beschränkung der Macht von Finanzmärkten
Es wäre jetzt etwas witzlos, wenn ich Sie fragen würde, welche Partei das wohl war – nach aller Vorrede, ist offensichtlich, dass es hier nicht um eine sozialistische, sondern um eine dezidiert rechte Partei geht. Genauer geht es um den mittlerweile in Rassemblement National umbenannten Front National und sein Wahlkampfprogramm für die französische Präsidentschaftswahl 2017. Ich will die Partei an dieser Stelle jedoch gar nicht verharmlosen. Selbstverständlich waren diese Forderungen im Wahlkampf genau so gerahmt, wie man sich das vorstellt: Mit der klaren Ablehnung von Migration und der Hetze gegen Minderheiten, insbesondere gegen Muslim_innen. Mit dem Versprechen staatlicher Leistungen ging das Versprechen einher, dass nicht alle davon profitieren sollen.
Polen
Im dritten und letzten Beispiel geht es nicht um bloßes Wahlkampfmaterial, sondern um Policy. In Polen ist mit der Prawo i Sprawiedliwość seit 2015 eine rechtspopulistische Partei an der Macht. Wenn ich Sie nun vor einer halben Stunde gefragt hätte, welche Politik die PiS-Regierung verfolgt, hätte die Mehrheit von Ihnen sicherlich – durchaus zu Recht – darauf verwiesen, dass die Partei nach Kräften versucht, den Rechtsstaat abzubauen, insbesondere, indem sie die Unabhängigkeit der Justiz unterminiert. Nicht lange danach hätte sicherlich jemand darauf verwiesen, dass auch unabhängige Medien Angriffen ausgesetzt sind. Und vielleicht wäre einigen noch eingefallen, dass die Regierung eine nationalkonservative Geschlechterpolitik verfolgt, die sich nicht zuletzt im Versuch eines Totalverbots von ohnehin nur in Ausnahmefällen möglichen Abtreibungen ausdrückte.
Weitaus später wären – wenn überhaupt – wohl die sozialpolitischen Maßnahmen der Regierung genannt worden. Dies sind unter anderem
- die Senkung des Pensionsalters auf 65 Jahre für Männer und 60 Jahre für Frauen
- die Einführung eines Kindergelds, das im Normalfall erst ab dem zweiten Kind, für Bedürftige aber schon ab dem ersten Kind gezahlt wird und die Kinderarmut in Polen massiv reduziert hat
- die Einführung eines allgemeinen Mindeststundenlohns
- die Erhöhung des Mindestmonatsgehalts für Festangestellte
- die Stärkung des sozialen Wohnungsbaus.
Wiederum sind dies sozialpolitischen Maßnahmen, die man wohl am ehesten von linken Parteien erwarten würde – nur gibt es in Polen keine linken Parteien im Parlament.
Autoritarismus + Wirtschaftsliberalismus = Erfolg?
Wenn manche von Ihnen diese Informationen nun überraschend finden, sind Sie damit keinesfalls allein, sondern in guter politikwissenschaftlicher Gesellschaft. Tatsächlich gingen Teile der Forschungsliteratur in den 1990ern davon aus, dass rechtspopulistische Parteien mit solchen Positionen keinen Erfolg haben könnten. Der Parteienforscher Herbert Kitschelt sprach damals von der „Winning Formula“ des Rechtspopulismus: Diese bestand aus der Kombination von soziokulturellem Autoritarismus und ökonomischem Liberalismus. Soziokultureller Autoritarismus meint die Unterordnung von individueller Freiheit unter Tradition, Autorität und Kollektivität, aber auch auf die Ablehnung von Migration und kultureller Vielfalt. Ökonomischer Liberalismus meint die Positionierung gegen staatliche Intervention in die Wirtschaft sowie gegen wohlfahrtsstaatliche Umverteilung.
Kurzum ging man davon aus, dass rechtspopulistische Parteien, sofern sie erfolgreich sein wollen, nicht nur soziokulturell, sondern auch sozioökonomisch bei den Positionen müssen, die oftmals als „rechts“ bezeichnet werden: nämlich bei der Ablehnung von staatlichen Interventionen und Umverteilungsprogrammen. Vor dem Hintergrund der Geschichte der politischen Rechten und vor dem Hintergrund der Geschichte des Wohlfahrtsstaates sollte es aber nicht überraschen, dass es dezidiert rechte Parteien gibt, die im Gegenteil einen wirtschafts- und sozialpolitisch aktiven Staat einfordern, also sowohl sozioökonomisch als auch soziokulturell antiliberal sind – dies war im 19. und 20. Jahrhundert immer wieder der Fall.
Die populistische Landschaft Europas heute und wirtschafts- und sozialpolitischen Gesichtspunkten
Aber wie sind die rechtspopulistischen Parteien heute aufgestellt? Dies ist im folgenden Streudiagramm zu erkennen. Darin Streudiagramm sind auf der X-Achse die soziokulturellen, auf der Y-Achse die sozioökonomischen Positionen populistischer Parteien aufgetragen. Die Daten stammen aus dem Chapel Hill Expert Survey 2017.
Links unten sieht man in Rot die drei als linkspopulistisch kategorisierten Parteien, die sich sowohl sozioökonomisch als auch soziokulturell links positionieren: Podemos, Syriza und La France insoumise – wobei sich die letzteren gerade in Bezug auf Fragen der Migration deutlich weniger stark für offene Grenzen positionieren als die beiden erstgenannten. In der Mitte stehen in Grün drei Parteien, die gemeinhin als populistisch klassifiziert werden, aber sich weder eindeutig dem Links- noch dem Rechtspopulismus zuordnen lassen. In Blau sind schließlich die rechtspopulistischen Parteien aufgeführt, wobei ich den Begriff hier eher weit ausgelegt und auch neofaschistische Parteien aufgenommen habe. Hier sehen wir das Entscheidende: Die Parteien gruppieren sich alle am rechten Rand des Graphen, stehen also soziokulturell allesamt deutlich rechts. Auf der sozioökonomischen Achse dagegen sind die Parteien deutlich weiter gestreut. Die meisten bewegen sich zwischen den Werten 4 und 8, tendenziell also Mitte-rechts, aber mit erheblicher Varianz. Im Survey von 2014, der deutlich mehr Länder einbezieht, ist die Streuung sogar noch breiter, weil da einerseits die stark wirtschaftsliberalen rechtspopulistischen Parteien aus Norwegen, Großbritannien und der Schweiz, andererseits aber auch eher etatistische rechte Parteien aus Südosteuropa aufgeführt sind.
Blickt man auf dem Graphen, wird auch klar, dass es ein Trugschluss wäre, die eingangs referierten Positionen von RN/FN und PiS als stellvertretend für den europäischen Rechtspopulismus im Ganzen zu verstehen. Zwar suggerieren einige Autor_innen, es gäbe einen Trend, in dem sich rechtspopulistische Parteien klar etatistisch und wohlfahrtschauvinistisch aufstellten. Wenn man sich die rechtspopulistische Landschaft in Europa jedoch anschaut, ergibt sich ein deutlich anderes Bild, in dem einige Parteien weiterhin klar wirtschaftsliberal orientiert sind.
Ich möchte hier noch auf zweierlei Hinweisen: Erstens darauf, dass die soziokulturell am wenigsten autoritären rechtspopulistischen Parteien beide aus Holland kommen, nämlich die Partij voor de Vrijheid und das Forum voor Democratie. Dies verweist darauf, dass diese Parteien sich zumindest teilweise am Klima im jeweiligen Land orientieren – und das ist in den Niederlanden eben vergleichsweise liberal. In Bezug auf Geschlechter- und Sexualpolitik etwa sind beide Parteien gemessen an anderen rechten Parteien durchaus offen, nicht aber in Bezug auf Migration. Zudem stehen sie auf der Y-Achse recht weit auseinander. Hier ist bemerkenswert, dass die alte PVV bei den Europawahlen stark an das FvD verloren hat – was wiederum darauf verweist, dass sich gerade kein eindeutiger Trend hin zu pro-wohlfahrtsstaatlichen Positionen verzeichnen lässt.
Zweitens möchte ich hier auf die beiden polnischen Parteien in der Grafik verweisen. Dies ist neben der bereits erwähnten Regierungspartei PiS die soziokulturell ebenfalls stramm rechte Liste Korwin – auch diese zog jüngst ins Europaparlament ein, wenn auch nur mit einem Bruchteil der Stimmen, die die PiS erreichte. Sie vertritt im Gegensatz zur PiS sozioökonomisch marktradikale Positionen. Dies verweist darauf, dass es zur selben Zeit im selben Land mithin mehrere rechtspopulistische Parteien mit unterschiedlichen Programmen geben kann, die – so ist zu vermuten – unterschiedliche Bevölkerungsgruppen ansprechen.
Nativismus + Autoritarismus + Populismus + X = Erfolg
Wie ist das nun zu erklären? Offenkundig nicht mit Kitschelts „Winning Formular“. Zu deren Verteidigung ist zwar zu sagen, dass die Mehrzahl der erfolgreichen Rechtsparteien im Europa der 1980er und 1990er tatsächlich antiwohlfahrtsstaatlich ausgerichtet waren. Jedoch scheint diese These bestenfalls für einen gewissen begrenzten Zeitraum gehalten zu haben.
Als etwas dauerhafter erweisen sich dagegen die Thesen, die Cas Mudde in seinem 2007 veröffentlichten Buch Populist radical right parties in Europe formulierte. Demnach ist die Ideologie rechtspopulistischer Parteien durch drei Elemente bestimmt: erstens Nativismus, verstanden als Nationalismus mit expliziter Abwertung „fremder“ Anderer; zweitens Autoritarismus, verstanden als Vorrang von Autorität, Kollektivität und Tradition über individuelle Freiheit in gesellschaftspolitischen Fragen; drittens Populismus, verstanden als Entgegensetzung von „gutem Volk“ und „korrupten Eliten“ verbunden mit der Forderung nach Volkssouveränität.
Wie man sieht, enthält diese Definition keine Aussage über eine Positionierung auf dem altbekannten sozioökonomischen Links-rechts-Spektrum. Entsprechend ist davon auszugehen, dass rechtspopulistische Parteien in dieser Dimension ideologisch eher flexibel sind und sich mithin opportunistisch den Gelegenheitsstrukturen anpassen – also genau das, was im Graphen zu sehen war.
Die wirtschafts- und sozialpolitische Flexibilität des Rechtspopulismus
Österreich: Zwei Obmänner, zwei Koalitionen, zwei Reformen
Dies möchte ich nun noch kurz anhand der Beispiele der österreichischen FPÖ und der deutschen AfD erläutern.
Bei der FPÖ stütze ich mich auf eine Analyse des Politikwissenschaftlers Laurenz Ennser-Jedenastik. Diesem zufolge transformierte sich die FPÖ Mitte der 1980er zu einer rechtspopulistischen Partei – die Personifikation dieser Transformation ist Jörg Haiders, der 1986 Parteiobmann wurde. Im Folgenden habe sich die populistische Agitation der Partei direkt gegen den Wohlfahrtsstaat gerichtet. Dieser sei als klientelistische, von Parteienfilz geprägte Bürokratie angegriffen worden, mit deren Hilfe sich die alten Eliten auf Kosten der einfachen Leute bereicherten. Mit dieser Agenda erreichte die FPÖ 1999 bei den Bundestagswahlen 26% der Stimmen und wurde Teil einer Koalitionsregierung mit der ÖVP. Diese Koalitionsregierung führte eine Reihe von Reformen, insbesondere in der Rentenpolitik, durch, die bei der sozialdemokratischen Opposition und bei Gewerkschaften auf Widerstand stießen. Just in diesem Zeitraum brach die FPÖ bei der Wählergunst ein. Sicherlich ist dies nicht ausschließlich auf die Sozialpolitik zurückzuführen, Ennser-Jedenastik zufolge war dies aber ein relevanter Faktor. Das hieße, dass die FPÖ in der Regierung das getan hätte, was in ihrem Programm stand, die davon negativ betroffenen Wähler_innen aber dennoch enttäuscht waren.
Unter Heinz-Christian Strache, der ab 2005 neuer Obmann der FPÖ wurde, stellte sich die Partei – auch als Reaktion auf diese Stimmverluste – neu auf und verstand sich nun (mit denselben Worten wie übrigens auch die NPD in Deutschland) als „soziale Heimatpartei“. Nun wurde das Programm klarer wohlfahrtschauvinistisch. Anstatt den Wohlfahrtsstaat anzugreifen, zielten die Parteiprogramme nun auf dessen Verteidigung gegen Migration und andere als „Belastung“ wahrgenommene Faktoren. Das heißt, so die Pointe von Ennser-Jedenastik, dass Nativismus, Autoritarismus und Populismus sich konsistent in der Sozialpolitik zeigen können, aber ganz unterschiedliche Artikulationen zulassen. Wieder erstarkte die Partei in Wahlen, wieder wurde man Teil einer konservativ geführten Koalitionsregierung – und wieder widmete sich diese Koalition direkt nach ihrem Regierungsantritt dem neoliberalen Angriff auf den Wohlfahrtsstaat. Wieder verlor die FPÖ in den Umfragen anschließend deutlich.
Ähnliche Dynamiken beschreibt Joachim Becker auch für Finnland und die Niederlande: Hier seien die jeweiligen Rechtsparteien mit einem wohlfahrtschauvinistischen Programm in den Wahlkampf gezogen, hätten dann eine Mitte-Rechts-Regierung unterstütztt (in Finnland als Teil der Koalition, in den Niederlanden als Mehrheitsbeschaffer einer Minderheitsregierung), die neoliberale Reformen durchführte, und seien dafür von den Wähler_innen abgestraft worden.
Daraus nun den Schluss zu ziehen, dass rechtspopulistische Parteien ihre Wähler_innen mit den Bekenntnissen zum Wohlfahrtsstaat einfach betrügen, wäre vielleicht bequem, aber nicht treffend. Schließlich zeigt das polnische Beispiel, dass es durchaus Rechtsparteien gibt, die tatsächlich umverteilende Politiken verfolgen.
Stattdessen möchte ich den Fall eher so interpretieren, dass die Wirtschafts- und Sozialpolitik für rechtspopulistische Parteien tendenziell von geringerer Wichtigkeit ist und sie sich hier deshalb flexibel zeigen. Ihr Markenkern liegt im soziokulturellen Bereich und heute insbesondere in der Migrationspolitik. Solange sie diesen Markenkern halten, können sie sich in anderen Bereichen wie der Sozial- und Wirtschaftspolitik flexibel zeigen. Auch dies lässt sich graphisch abbilden.
Wichtige Kultur, untergeordnete Ökonomie
Dieser Graph zeigt wiederum auf der X-Achse soziokulturelle und auf der Y-Achse sozioökonomische Fragen – allerdings geht es nun nicht um die Position der Parteien zu diesen Fragen, sondern um die Wichtigkeit dieser Fragen für die Parteien. Rechts sind hier also Parteien abgebildet, denen soziokulturelle Fragen wichtig sind, oben Parteien, denen sozioökonomische Fragen wichtig sind. Für Parteien, die auf der Diagonale liegen, sind beide Fragen gleichermaßen wichtig (oder unwichtig), für die Parteien rechts darunter sind soziokulturelle Fragen wichtiger, für die Parteien links darüber sind sozioökonomische Fragen wichtiger.
Hier sei auf zweierlei hingewiesen: Erstens darauf, dass ausnahmslos alle rechtspopulistischen Parteien, wiederum in Blau dargestellt, soziokulturellen Fragen die größere Wichtigkeit beimessen als sozioökonomischen. Dies passt zu meiner Vermutung, dass sie sozioökonomisch eher flexibel sind und bereit sind, bei der Regierungsbildung hier Abstriche zu machen. Entsprechende Prozesse ließen sich neben Österreich auch in den Niederlanden und in Finnland beobachten. Zweitens möchte ich noch kurz erwähnen, dass sich alle linkspopulistischen Parteien in dieser Grafik über allen rechtspopulistischen Parteien befinden, was bedeutet, dass diesen linken Parteien sozioökonomische Fragen wichtiger sind als den rechten.
Deutschland: Parteitag an St. Nimmerlein
Abschließend möchte ich noch kurz auf die entsprechenden Konflikte innerhalb der Alternative für Deutschland eingehen. Diese Partei wurde 2013 als wirtschaftsliberal-populistische Partei gegründet und öffnete sich dann auf der Suche nach Erfolg immer weiter für nationalkonservative und rechtsextreme Kräfte, die sich in den beiden Machtkämpfen 2015 und 2017 durchsetzten und prominente Parteigründer zum Rückzug zwangen. Dies hat in erster Linie dazu geführt, dass sozioökonomische Fragen für die Partei stark an Relevanz verloren: Drehte sich 2013 noch alles um Eurokrise und Wirtschaftspolitik, wurde die AfD 2015 in ihrer Mobilisierung faktisch zu einer Single-Issue-Partei mit fast ausschließlichem Fokus auf Migrationspolitik. Dies heißt jedoch nicht, dass den Führungskräften oder den Wähler_innen der Partei sozioökonomische Fragen per se gleichgültig wären, sie stehen nur nicht im Fokus der Mobilisierung.
Das hat zufolge, dass die Partei aktuell sowohl an der Spitze als auch an der Basis Gruppen mit diametral entgegengesetzten Positionen in Sozial- und Wirtschaftspolitik vereinen kann. Im Spitzenpersonal gibt es insbesondere mit Alice Weidel und Jörg Meuthen immer noch prononciert marktradikale Kräfte. Diesen steht aber insbesondere der völkische Flügel um Björn Höcke entgegen, der auch sozioökonomisch entschieden antiliberal ist. Der Gegensatz zeigt sich insbesondere in den Rentenkonzepten: Das von Meuthen favorisierte Modell sieht eine stärkere Anlagefinanzierung, also eine Individualisierung und Privatisierung der Altersvorsorge vor; das von Höcke favorisierte Modell dagegen soll die bisherige Umlagefinanzierung stärken und das gegenwärtige Niveau länger garantieren, als die SPD das zu tun bereit ist. Das Modell des Höcke-Flügels trägt dabei klar wohlfahrtschauvinistische und nativistische Züge, weil es kinderreiche Familien bevorzugt, Personen ohne deutsche Staatsbürgerschaft benachteiligt. Der Konflikt verläuft tendenziell entlang der Linie Ost-West, wobei die westdeutschen Landesverbände eher wirtschaftsliberal, die ostdeutschen eher etatistisch orientiert sind.
Dieser Streit schwelt schon länger innerhalb der Partei. Die Bewältigungsstrategie besteht bislang im Aufschieben einer Entscheidung über eine sozialpolitische Linie: Diese sollte erst 2018, dann 2019 vor den Landtagswahlen im Herbst, dann 2019 zwischen den Landtagswahlen im Herbst und soll nun 2020 fallen. Diese Aufschieberei hat ihren Grund, denn jede Entscheidung in die eine oder andere Richtung hätte durchaus das Potenzial, die Partei und ihre Basis (und mithin ihre geheimen Spender) zu spalten und in Wahlen zu schwächen. Solange die Partei keine allgemeine Entscheidung trifft, können die Landesverbände jeweils mit den Programmen in den Wahlkampf ziehen, die sie in ihrem Land für erfolgversprechend halten. Ob das Aufschieben als Strategie ewig funktioniert, hängt am Ende davon ab, ob es den anderen Parteien gelingt, die AfD auf dem Feld der Sozialpolitik zu stellen. Bislang gab es zwar einige peinliche Momente – man denke an das ZDF-Sommerinterview mit Alexander Gauland 2018 – aber keinen ernsthaften Schaden.
Abschließend sei dabei noch einmal auf das eingangs gezeigte Video verwiesen. Wer Alice Weidels Rede unbedarft hört – und Millionen haben sie gehört –, muss glauben, dass sie sich für den Erhalt des Wohlfahrtsstaates einsetzt, den sie durch Immigration gefährdet sieht. Tatsächlich ist Weidel aber eine der hartgesottenen Wirtschaftsliberalen in der Partei. Daraus ist einerseits zu lernen, dass Rechtspopulist_innen durchaus in der Lage sind wohlfahrtschauvinistisch zu mobilisieren, ohne den Wohlfahrtsstaat tatsächlich zu schätzen. Damit sollten die anderen Parteien sie nicht durchkommen lassen. Es ist richtig auf den Rassismus in Weidels Rede zu verweisen, aber darüber sollte man die Heuchelei in Sachen Wohlfahrtschauvinismus nicht vergessen.