Nicht nur Jochen Bittner zeigt sich empört über die Verbreitung eines Bildes von Alexander Gauland in Badehose. Aber es besteht kein Anlass zur Sorge: Auch wenn Gauland wenig würdevoll dargestellt wird und Bittner nicht sehr würdevoll agiert, ist ihre Menschenwürde doch nicht gefährdet.
Seien wir ehrlich, wir alle, die wir im Aufstiegt des Rechtspopulismus ein Problem sehen, sind einigermaßen ratlos. Wenn wir ehrlich sind, sind wir ratlos, worin die Ursachen für diesen Aufstieg liegen, wir sind ratlos, ob und wie der Aufstieg zu vermeiden gewesen wäre, und wir sind ratlos, wie er sich aufhalten oder umkehren ließe. Wir haben sicherlich einige Antworten auf diese Fragen, aber so genau wissen wir es alle nicht.
Es gibt verschiedene Arten damit umzugehen. Die schlechteste Art besteht darin, die Beantwortung der Fragen einfach aufzugeben – denn das Problem ist und bleibt real. Die zweitschlechteste besteht darin, die eigene Ratlosigkeit zu bestreiten und eine einzelne Antwort auf alle Fragen als die einzig wahre herauszuschreien, während man alle, die andere Antworten geben, zu Teilen des Problems erklärt. Die drittschlechteste (und in meiner begrenzten Phantasie beste) besteht schließlich darin, die Fragen unter Eingeständnis der eigenen Ratlosigkeit weiter zu diskutieren und auf Basis dieses Diskussionsstandes zu agieren.
Der wichtigste Unterschied zwischen der zweit- und der drittschlechtesten Variante dürfte in einer gewissen Bescheidenheit im Ton bestehen, in dem man sich gegen die Antworten wendet, die man für falsch hält. Andersherum gilt: Wer solche Bescheidenheit vermissen lässt, entlarvt sich allzu oft als jemand, der vergeblich versucht, die eigene Ratlosigkeit durch dargestellte Entschlossenheit zu kaschieren. Ein offensichtliches Beispiel hierfür ist Jochen Bittners heutiger Artikel bei Zeit Online.
Die unbedingte Verteidigung eines imaginären Konsenses
Nachdem Bittner sich eingangs selbst als Kritiker der AfD positioniert, kommt er zum Punkt: Auch „immer mehr Gegner der AfD“ machten sich „mitschuldig an der Entmenschlichung der politischen Auseinandersetzung und am Abtrag zivilisatorischer Werte“, worüber „noch nicht genug geredet“ werde. Sein aktuellstes Beispiel: Die Häme, mit der das Foto verbreitet wird, das Alexander Gauland zeigt, wie er in Badehosen nach Hause geht, nachdem ihm am Badesee Kleidung und Schlüssel gestohlen worden sind.
Dabei diskutiert Bittner zweifelsohne eine wichtige Frage, in der er triftige Argumente hat: Sowohl moralisch als auch politisch-strategisch kann und sollte man trefflich darüber streiten, in welchen Grenzen sich politische Auseinandersetzungen bewegen sollten; und sowohl moralisch als auch politisch-strategisch kann man zu dem Schluss kommen, dass das Lachen über das ohne Zustimmung aufgenommene Bild eines Politikers in misslicher Lage jenseits dieser Grenzen liegt.
Jedoch versteigt sich Bittner zu einem moralistisch-rhetorischen Maximalismus, der nahelegt, dass er den eigenen Argumenten selbst nicht so recht traut. Er bescheidet sich nämlich nicht mit der vertretbaren These, dass es unanständig und/oder politisch unklug ist, Gauland so zu behandeln, wie man ihn behandelt. Nein, er packt diejenigen, die Gauland so behandeln, auch gleich in eine (an sich schon ziemlich rätselhafte) Kategorie mit der AfD, dem Rotfrontkämpferbund und den Nationalsozialisten.
Dies tat er zuerst gestern bei Twitter, als er denjenigen, die Gaulands Bild verbreiteten, bescheinigte, sie begingen einen „Zivilisationsbruch“. Damit verwendete er ein Wort, das geprägt wurde, um die Verbrechen von Auschwitz einzuordnen.
In seiner heutigen Online-Kolumne findet sich dieses Wort nicht mehr, aber nun spricht er immerhin noch von einem „grundlegenden zivilisatorischen Konsens dieses Landes“, den aufkündige, „wer es nicht schafft zu abstrahieren zwischen einer Person und ihrer Position (über die man natürlich spotten darf)“.
Man fragt sich: In welchem Land lebt der eigentlich? Man ist doch erstaunt, dass es in der Bundesrepublik einen effektiven Grundkonsens geben soll, nur über Positionen, nicht aber über Personen zu spotten – und dass an diesem Konsens auch noch die Zivilisation hängt. Soll man nun anfangen, das zu widerlegen, indem man spöttische Witze und gehässige Bemerkungen zitiert, mit denen Merkel, Schröder, Kohl und diverse andere Politiker_innen als Personen aufs Korn genommen wurden? Oder indem man auf Fälle verweist, in denen sich Mitglieder des Bundestages zünftig beleidigten? Oder indem man Bilder zeigt, in denen Personen des öffentlichen Lebens ohne Zustimmung in Badewäsche gezeigt wurden?
Sparen wir uns das und machen es kurz: Bittner sieht hier durch die Gegner_innen der AfD einen „Konsens“ gefährdet, den es nie gab – und diese Imagination legt nahe, dass seine entschlossene Positionierung in erster Linie dazu dient, Ratlosigkeit zu kaschieren. Wenn man bestimmten anderen Leuten die ganz große Mitschuld am Niedergang demokratischer Kultur gibt, sind die quälend unbefriedigenden Lösungen, die man selbst zu bieten hat, gleich weniger quälend. Und die „kämpferischer Vernunft“, die Bittner als Mittel gegen „menschenverachtenden Unfug“ einfordert, blamiert sich ja selbst im Umgang mit Rechtspopulismus selbst immer und immer wieder.
Diese moralistische Kaschierung kommt wie so oft nicht aus, ohne den ultimativen Vergleich zu bemühen: Bittner betont, dass eine „hypermoralisierende und untermoralische Linke […] eine gehörige Mitschuld am Scheitern der Weimarer Republik“ getragen habe und man im „Deutschland dieser heißen Frühsommertage […] gerade wieder dieselbe Hitze“ fühle. Er sieht sich ins „Zeitalter der Extreme“ zurückversetzt, also in die Zeit im 20. Jahrhundert, „in der der Liberalismus immer weiter eingequetscht wurde durch selbstgerechte, missionarisch beseelte Frontdenker von rechts und links“. Wie einst die Weimarer Republik steht nun also die Bundesrepublik vor der Abwicklung in einer Zangenbewegung von Linken und Rechten. Wer über Gauland in Badehosen lacht, ist mindestens so schlimm wie der Rotfrontkämpferbund, der bekanntlich (im Gegensatz zum Liberalismus!) Mitschuld am Nationalsozialismus trägt.
Doch mehr noch: Wer den Spott über Gauland betreibe oder rechtfertige, stelle den „Urgedanken des Post-1945-Deutschlands“ in Frage: „die universelle Geltung der Menschenwürde“. Hämischer Spott als Angriff auf die freiheitlich-demokratische Grundordnung! Gut, dass der Staatsschutz schon ermittelt!
Eine Wikipedia-Recherche wäre ein guter Anfang
Auch seine Abseitige Verwendung normativer Schlüsselbegriffe legt nahe, dass Bittner nicht ernsthaft argumentiert, sondern andere beschimpft, um die eigene Ratlosigkeit zu kaschieren. Ein bescheidenes Maß an Bescheidenheit könnte sich ja schon darin ausdrücken, dass man die Bedeutung der ganz großen Worte mal kurz bei Wikipedia checkt, bevor man sie in grandioser Geste um sich wirft, um andere als Feind_innen der Demokratie darzustellen.
Zum Beispiel das Wort „Zivilisationsbruch“. Hier könnte man Folgendes lesen:
Der von Dan Diner geprägte Begriff Zivilisationsbruch eröffnet in Hinsicht einer Deutung der Geschichte des 20. Jahrhunderts einen argumentativen wie semantischen Rahmen für ein Feld von Fragestellungen, welche auf dem spannungsreichen Feld zwischen Holocaust und Erinnerung hervorgerufen werden. Über eine Analyse des Holocaust hinausweisend, welche den Massenmord an den europäischen Juden in einer Perspektive von Tätern und Opfer begreift, stellt der Terminus Zivilisationsbruch die historischen Ereignisse in eine universale Dimension, die sich auf die Geschichte der westlichen Zivilisation bzw. Geschichte der Moderne erstreckt. Damit wird auch der Erinnerung ein über die Gedächtniskulturen der betroffenen Länder hinausreichender universaler Geltungsbereich zugesprochen. Einerseits drückt der Begriff eine von den Opfern ausgehende „anthropologische Irritation“ (Dan Diner) aus: die Grundlagen des sozialen Handelns in der Moderne, welches sich auf „handlungsanleitende Vernunftannahmen“ gründete und das Vertrauen in die Logik einer auf Selbstinteresse ausgerichteten Vernünftigkeit des Menschen, sind außer Kraft gesetzt: „indem Menschen der bloßen Vernichtung wegen vernichtet werden konnten, wurden auch im Bewußtsein verankerte Grundfesten unserer Zivilisation tiefgreifend erschüttert – ja gleichsam dementiert.
Bevor man angesichts eines Diebstahls am Badestrand und der anschließende Verbreitung einer Fotografie des Opfers von einem „Zivilisationsbruch“ spricht, könnte man sich dann fragen: Geht von dieser Tat und seinem Opfer eine anthropologische Irritation aus? Wird das Vertrauen in die Logik einer auf Selbstinteresse ausgerichteten Vernünftigkeit des Menschen außer Kraft gesetzt? Wurden Grundfesten unserer Zivilisation tiefgreifend erschüttert – ja gleichsam dementiert? Meine ich vielleicht gar nicht „Zivilisationsbruch“, sondern nur einen „Verstoß gegen zivile Umgangsformen“.
Oder auch das Wort „Menschenwürde“. Dazu sagt Wikipedia:
Menschenwürde ist ein unbestimmter Rechtsbegriff, der in der deutschsprachigen Rechtsphilosophie und Rechtstheorie für bestimmte Grundrechte und Rechtsansprüche des Menschen steht (dies ist von der umgangssprachlichen Bedeutung des Begriffes Würde zu unterscheiden). Im modernen Sinne versteht man darunter, dass alle Menschen unabhängig von all ihren Unterscheidungsmerkmalen wie Herkunft, Geschlecht, Alter oder Zustand denselben Wert haben, und dass dieser Wert über dem aller anderen Lebewesen und Dinge steht.
Bevor man angesichts desselben Diebstahls am Badestrand und der anschließende Verbreitung einer Fotografie des Opfers eine Gefahr für „die universelle Geltung der Menschenwürde“ sieht, könnte man sich dann fragen: Wird durch die Verbreitung des Bildes tatsächlich infrage gestellt, dass alle Menschen unabhängig von all ihren Unterscheidungsmerkmalen wie Herkunft, Geschlecht, Alter oder Zustand denselben Wert haben, und dass dieser Wert über dem aller anderen Lebewesen und Dinge steht? Verwechsele ich hier eventuell den Rechtsbegriff der Menschenwürde mit der umgangssprachlichen Bedeutung des Begriffes Würde, obwohl doch beide zu unterscheiden sind? Könnte es sein, dass ersterer tatsächlich keine graduellen Abstufungen kennt, letzterer aber schon? Ist es etwa möglich, dass tagtäglich Menschen in mitunter entwürdigender Weise als „dummes Arschloch“ bezeichnet werden, ohne dass dadurch Artikel 1 des Grundgesetzes gefährdet wäre?
Es wäre sicherlich sehr viel würdevoller gewesen, wenn Jochen Bittner sich solche Fragen gestellt und die eigene Ratlosigkeit eingestanden hätte, anstatt durch falsche, aber umso entschlossenere Begriffsverwendung und durch hypermoralisierende Polemik aufzufallen – denn wir sind ja alle ratlos! Aber seine Menschenwürde ist durch sein wenig würdevolles Agieren zum Glück nicht gefährdet.