Am 11. und 12. Januar kommt die AfD in Riesa zu ihrem 16. Parteitag zusammen, auf dem sie unter anderem ihr Wahlprogramm für die Bundestagswahlen im Februar beschließen wird. Letzte Woche veröffentlichte die Partei den Programmentwurf in Form eines Leitantrags zum Parteitag. Ich beschäftige mich im Rahmen meiner Habilitation seit Jahren mit AfD-Parteiprogrammen, wobei mein Schwerpunkt auf der wirtschafts- und sozialpolitischen Positionierung liegt, konkret auf der Wirtschaftspolitik, der Rentenpolitik, der Arbeitsmarktpolitik sowie der Steuer- und Finanzpolitik. Vor diesem Hintergrund ordne ich im Folgenden den aktuellen Entwurf ein.
Der Kernbefund gleich vorneweg: Der seit Jahren oft beschworene sozioökonomische „Linksruck im Rechtspopulismus“ lässt sich auch im aktuellen AfD-Programmentwurf nicht beobachten. Trotz einiger sozialprotektionistischer Zwischentöne befürwortet die Partei insgesamt weiterhin Deregulierung und Steuersenkungen für Reiche, nicht aber Staatsintervention und Umverteilung. Neu ist jedoch, dass die Partei Wirtschaftspolitik und ihr ordoliberal-traditionalistisches Programm zur Rettung der deutschen Industrie nun in den Vordergrund rückt.
Nach einem Disclaimer zur Vermeidung enttäuschter Erwartungen (1) und einigen allgemeinen Punkten zu Form und Funktion von Parteiprogrammen (2), erläutere ich zunächst das Gesellschaftsbild der AfD-Programme (3). Danach weise ich zunächst auf die größte Neuerung hin: Im Programmentwurf wird die Wirtschaft- und Sozialpolitik erstmals in den Mittelpunkt gestellt und in die erste Reihe geschoben (4). Anschließend gehe ich darauf ein, inwiefern sich der Entwurf in den verschiedenen Bereichen gegenüber früheren Programmen verändert und inwiefern er konstant bleibt: In der Wirtschaftspolitik überwiegt die Konstanz, mit einer leicht gesteigerten Betonung der Marktaffinität (5), in der Sozialpolitik gibt es Neuerungen in Form von uneinlösbaren Wahlkampfversprechen an Rentner:innen und einer Rücknahme des in den letzten Jahren gezeigten Sozialprotektionismus in der Arbeitsmarktpolitik (6), in der Steuerpolitik bleibt es bei den alten Versprechen von Steuersenkungen, denen ein neues für Gastronom:innen hinzugefügt wird (7).
(Die eingestreuten Screenshots sind eher launisch kommentierte Outtakes.)
Inhalt
1 Vorweg: Dies ist kein Verfassungsschutzgutachten
Vorneweg, um enttäuschte Erwartungen zu vermeiden: Wer den Programmentwurf oder diesen Kommentar in der Hoffnung liest, eine smoking gun zu finden, mit der man den rechtsextremen Charakter der Partei nachweisen und ein Parteiverbot begründen kann, wird enttäuscht. So funktioniert das alles nicht. Sonst wäre die Partei auch ganz schön blöd – sie könnte genauso gut den eigenen Verbotsantrag schreiben. Über den Systemsturz fantasiert Höcke bei Twitter, aber er steht nicht als Parteiziel im Programm. Wie alle Programme seit 2016 macht der aktuelle Entwurf die AfD eindeutig als Rechtsaußenpartei kenntlich: Ethnisch aufgeladener Nationalismus, Autoritarismus, Illiberalismus, Traditionalismus, Heterosexismus, Populismus usw. springen einem von jeder Seite ins Gesicht. Man kann sehr gut argumentieren, dass die entsprechenden Programminhalte und das Programm insgesamt in einem Widerspruch zu den Zielen des Grundgesetzes stehen. Aber das ist nicht die Intention dieses Beitrages – und auch mit einer solchen Argumentation wird es nicht gelingen, eine Verfassungswidrigkeit der Partei auf Grundlage der Programme und Programmentwürfe zu belegen. Wer diesen Text also bloß auf der Suche nach einem solchen Beleg liest, kann nun aufhören zu lesen. Wer dagegen wissen will, was sich dem Programmentwurf über die Positionierung der Partei in wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen entnehmen lässt, möge weiterlesen.
2 Parteiprogramme – Funktion und Form
Parteiprogramme haben eine kommunikative Funktion nach innen und eine nach außen: Sie teilen sowohl den eigenen Mitgliedern und Funktionär:innen als auch den potenziellen Wähler:innen und anderen gesellschaftlichen Akteuren mit, wofür die Partei politisch steht oder stehen möchte. Und entgegen allen Unkenrufen besteht ein deutlicher Zusammenhang zwischen dem, was Parteien vor Wahlen in ihre Programme schreiben, und dem, was sie nach Wahlen in Parlamenten oder Regierungen tun. Wenn man von den Bereichen absieht, in denen Parteien eine Motivation haben, ihre wahre Intention zu verschleiern (z.B. weil sie verfassungswidrig wäre), sind Parteiprogramme daher eine der besten Möglichkeiten, die Position einer Partei festzustellen.
Programme entstehen in Aushandlungsprozessen zwischen den verschiedenen Strömungen innerhalb der Partei. Diese haben mal aus Überzeugung, mal aus strategischem Kalkül unterschiedliche Meinungen dazu, was im Programm stehen sollte. Im Rahmen der Programmentwicklung einigen sie sich entweder auf Kompromisse oder es kommt zu Konflikten, in denen sich eine Seite durchsetzt – im Ausnahmefall auf offener Bühne auf dem Parteitag, häufiger in Hinterzimmern im Vorfeld. In der AfD handeln zunächst 13 mit Vertreter:innen verschiedener Landes- und Bundesgremien besetzte Bundesfachausschüsse eine Positionierung für ihren jeweiliges Sachgebiet aus – z.B. der BFA 3 | Finanzen & Steuern für das Feld Steuer- und Finanzpolitik. Diese Einzelpositionierungen werden dann von der Bundesprogrammkommission zu einem halbwegs kohärenten Ganzen zusammengefügt – eben diese Stufe der Entwicklung stellt der aktuell zirkulierende Programmentwurf dar. Der Entwurf der Programmkommission bildet dann die Basis für die Diskussionen über das Bundestagswahlprogramm auf dem Bundesparteitag. Die Parteitagsdelegierten sind zwar nicht formal an den Entwurf gebunden und könnten hypothetisch ein völlig anderes Programm verabschieden (in der Vergangenheit gab es solche Initiativen). In der Praxis bildet der Entwurf aber die Basis und wird nur in einzelnen Punkten geändert. Chancen auf Erfolg haben Änderungsanträge in der Regel nur, wenn der zuständige Fachausschuss bzw. die Bundesprogrammkommission sie sich zu eigen macht (das ist meistens bei der Korrektur kleiner Fehler der Fall) oder wenn prominente Akteure ihre Truppen zur offenen Feldschlacht mobilisieren (wie z.B. Höcke, als er 2021 gegen den Willen von Programmkommission, Fachausschuss und Vorstand den deutschen Austritt aus der EU ins Programm schreiben ließ, womit die Partei bis heute ringt).
Im Zeitverlauf lässt sich eine deutliche Pfadabhängigkeit beobachten: Wenn die Partei sich in einem Sachgebiet einmal für eine Position entschieden hat, hält sie im Normalfall über die Jahre daran fest. Zu einer Änderung kommt es nur, wenn sich die Mehrheitsverhältnisse in der Partei (bzw. den zuständigen Gremien) verschoben haben, sodass sich ein zuvor überstimmtes Lager durchsetzen kann, oder wenn es äußere Anlässe für eine Repositionierung gibt – häufig wirken beide Faktoren zusammen.
Dem aktuellen Entwurf merkt man an, dass die Ausschüsse und Kommission unter besonders hohem Zeitdruck arbeiten mussten. Das Dokument wirkt formal unfertiger als die Leitanträge für die letzten Programmparteitage. Im Detail gibt es noch mehr sachliche Unstimmigkeiten als sonst, Überschriften passen nicht zum Text, lange Abschnitte liegen nur als ungeordnete Sammlungen von Bullet Points vor usw. usf. (Ich verrate jetzt nicht, worum es im Einzelnen geht, ich arbeite ja nicht als Lektor für die AfD).
3 Das AfD-Weltbild: Mittelstands-Idyll mit ökonomischer Unwucht
Entsprechend bleibt der ideelle Kern des aktuellen Entwurfs derselbe wie in den letzten Jahren. Das von der AfD gezeichnete Bild einer idealen Gesellschaft sieht ungefähr so aus: Weiße Mittelschichts-Deutsche leben in heterosexuellen Partnerschaften und haben mindestens 2,1 deutsche Kinder, um die sich die Mutter zu Hause kümmert. Die Väter fahren fünf Tage pro Woche mit ihrem deutschen Verbrennerauto von ihrem Eigenheim zu ihrem (Industrie-)Arbeitsplatz, an dem sie einem qualifizierten Beruf nachgehen. In der Freizeit pflegen sie deutsche Traditionen und leben ihre „freie Meinungsäußerung“ im Internet aus.
Die ideale Wirtschaft imaginiert die AfD als relativ harmonische Einheit aus dieser hart arbeitenden Mittelschicht auf der einen Seite und anständigen, innovativen und fürsorglichen kleinen oder mittelgroßen „Familienunternehmen“ auf der anderen. Wie in Deutschland üblich bezeichnet sie sowohl die „Mittelschicht“ als auch die „Familienunternehmen“, also sowohl Facharbeiter:innen und ihre Familien als auch Multimillionär:innen als „Mittelstand“. Die Staatsvorstellung ist national-ordoliberal: Der Staat soll sich insbesondere in der Wirtschaft so weit wie möglich zurückhalten, aber das geschilderte Modell verteidigen, wo es bedroht ist. Er soll einen nationalen Ordnungsrahmen schaffen und die Einzelnen auffangen, wenn sie unverschuldet in eine Notlage geraten.
In der Vorstellung der AfD kam die deutsche Gesellschaft diesem Ideal in der Vergangenheit einmal recht nahe, ist aber in den letzten Jahrzehnten vom rechten Weg abgekommen. Und auch das, was noch von diesem Ideal übrig ist, gilt der AfD als bedroht – bedroht insbesondere durch „Massenmigration“, durch „Klimaideologie“, durch die „demografische Katastrophe“, durch „korrupte Politiker“, durch „‚woke‘ Ideologie“ und durch internationale Institutionen, die nationale Souveränität zersetzen.
Die AfD-Politik zielt insgesamt darauf, das Leben allderjenigen zu erleichtern, die diesem Idealbild zu entsprechen scheinen, und das Leben allderjenigen zu erschweren, die davon abweichen oder als eine Bedrohung gelten – und wer davon abweicht, gilt tendenziell als Bedrohung. Diese Zielsetzung ist in der Rhetorik eindeutig und in vielen Fällen liefe auch die Umsetzung der von der Partei geforderten Maßnahmen darauf hinaus. Schaut man sich die Policy-Vorschläge aber etwas genauer an, zeigt sich eine deutliche Unwucht: Ökonomisch käme eine Realisierung des AfD-Programms vor allem einkommens- und vermögensstarken Bevölkerungsgruppen zugute – sehr viel eher dem „Mittelstand“ im Sinne von „familienunternehmerisch“ tätigen Multimillionär:innen als dem „Mittelstand“ im Sinne von Facharbeiter:innen. Nur weil ein Mann jeden Tag brav in einem mittelständischen Unternehmen arbeiten geht und zu Hause schön viele Kinder zeugt, sollte er sich nicht einbilden, zu den Hauptprofiteuren der AfD-Politik zu gehören. Vor allem sollten alldiejenigen, die gerne ein solches Leben führen würden, aber faktisch in ökonomisch marginalisierterer Stellung leben, also z.B. Mindestlohn beziehen, unfreiwillig in Teilzeit arbeiten oder auf Bürgergeld angewiesen sind, nicht denken, die AfD bringe sie der Verwirklichung ihres Lebensziels näher: Für marginalisierte Gruppen hat die AfD nichts zu bieten – auch nicht, wenn sie weiß, heterosexuell und deutsch sind und sich dasselbe Idyll wünschen wie die AfD.
Das alles stimmt im Wesentlichen für jedes AfD-Programm seit 2016. Allerdings zeigen sich auch immer wieder Verschiebungen in den Details.
4 Eine neue Schwerpunktsetzung: Wirtschaft in den Vordergrund
Die auffälligste Neuerung des aktuellen Entwurfs besteht darin, dass das Themenfeld Wirtschaft und Soziales nun im Vordergrund und im Mittelpunkt steht. Seitdem die AfD vollständige Programmdokumente hat, also seit dem Grundsatzprogramm von 2016, begannen diese stets mit einem allgemeinen Kapitel: in Grundsatzprogramm und Bundestagswahlprogrammen mit einem Kapitel, in dem die Partei ihr Verständnis von Demokratie und Rechtstaatlichkeit darlegt, in Europawahlprogrammen mit einem Kapitel darüber, wie Europa politisch gestaltet sein soll. Davor kam in einigen Fällen noch eine Präambel. Sozioökonomische Themen tauchten stets erst weiter hinten auf.
Nun dagegen steigt die Partei mit einer etwas eigenwilligen, schwarz-rot-senfgelb gefärbten Tabelle ein (ich vermute nicht, dass die Marketingabteilung so etwas im endgültigen Programm zulassen wird). Diese Tabelle gibt die dreiteilige Gliederung des Programms vor. Der erste Teil ist mit „Zeit für Wohlstand“, der zweite mit „Zeit für Sicherheit“ und der dritte mit „Zeit für Zusammenhalt“ überschrieben. Dieser Gliederung entsprechend eröffnet die Partei ihren Programmentwurf nun zum ersten Mal seit 10 Jahren mit wirtschafts- und sozialpolitischen Themen, die auch mehr als die Hälfte des Gesamtumfangs ausmachen. Die Kapitel, die den für Rechtsaußenparteien üblicherweise zentralen Themen wie Migration oder innerer Sicherheit gewidmet sind, tauchen erst im zweiten Teil auf, die früher zuerst angesprochenen Fragen der Demokratiepolitik erst im dritten.
Diese Entscheidung, wirtschaftliche Themen im Schaufenster ganz nach vorne zu stellen, sollte vor dem Hintergrund der derzeitigen gesamtgesellschaftlichen Debattenlage gelesen werden. Deutschland ist nach vielen Indikatoren in einer wirtschaftlichen Krise. Viele Wähler:innen haben in den letzten Jahren erhebliche Reallohnverluste erlitten und die aktuellen Ankündigungen von Stellenabbau bei großen Industriebetrieben nähren die Ängste vor Deindustrialisierung und Arbeitsplatzverlust. Fast alle Beobachter:innen und Akteure sind sich darin einig, dass es grundlegender wirtschaftspolitischer Impulse bedarf – sie können sich nur nicht darauf einigen, worin diese bestehen sollen.
Wenn abzusehen ist, dass sich der Wahlkampf in erster Linie um Fragen der Wirtschaftspolitik drehen wird, hat die AfD allen Grund, sich auf diesem Feld sichtbar aufzustellen – denn hier wird sie bislang eher wenig wahrgenommen. Auf Themenfeldern wie Migration oder Islam muss die AfD dagegen kaum noch etwas sagen, weil ihre Position hier hinlänglich bekannt ist und kaum noch Nachrichtenwert hat.
Hinzu kommt eine deutsche Spezifität: Wirtschaftliche Krisen werden in jeder Gesellschaft zum politischen Thema. In Deutschland ist dies aber in besonderem Maße der Fall. Wie Oliver Decker herausgearbeitet hat, besteht in Deutschland eine besondere Verbindung von nationalem Selbstwertgefühl und wirtschaftlichem Erfolg. Eine Krise, die dann auch noch die für die Identität besonders wichtigen Sektoren der Automobil- und Maschinenbauindustrie erfasst, stellt auch die nationale Identität in Frage und fordert eine Mobilisierung von rechtsaußen somit geradezu heraus. Anzeichen einer entsprechenden Schwerpunktsetzung zeigten sich in Teilen der AfD-Kommunikation bereits in den letzten Jahren – und nun scheint sie Programm zu werden.
5 Weitgehende Kontinuität in der Wirtschaftspolitik: Klimapolitik und Bürokratie als Bedrohung, Markt und Wettbewerb als Rettung (Kapitel 1)
Inhaltlich hat sich in der Wirtschaftspolitik jedoch wenig verändert – hier handelt es sich um einen von zwei Bereichen, in denen die Partei seit ihrer Gründung im Wesentlichen marktliberal ausgerichtet ist. Von Anfang an vertritt die Partei wie oben skizziert einen national orientierten Ordoliberalismus. Als Ziel gibt sie „Wohlstand für alle“ aus und der Weg dorthin soll über möglichst viel möglichst freien Wettbewerb führen. Der Staat soll einen (nationalen) Ordnungsrahmen schaffen und darüber hinaus so wenig eingreifen wie möglich – wenn er es doch tut, dann vor allem, um Wettbewerb zu gewährleisten, zum Beispiel durch die Verhinderung von Kartellbildung.
Als Gefahren und Probleme sieht die AfD im Allgemeinen einen überbordenden Staat, der die Wirtschaft mit zu viel Bürokratie belastet. Als konkretere Gefahr tritt seit 2021 die Klimapolitik in den Vordergrund. Diese hält die AfD, die den von Menschen verursachten Klimawandel verleugnet, nicht nur für unnötig, sie sieht darin auch eine Gefährdung des Wohlstands durch Deindustrialisierung. Ohne Bürokratie, Subventionen und Klimapolitik (und mit günstiger Energie aus Russland, die man durch ein Ende der Sanktionen wieder importieren können möchte), so die Vorstellung, wird sich im Wettbewerb wieder der deutsche Verbrennungsmotor durchsetzen, was bedrohte Arbeitsplätze erhalten und neue schaffen soll. Besonders viel positive Aufmerksamkeit erhalten mittelständische Unternehmen und die Automobilindustrie. Auch die Rüstungsindustrie, Apotheken, Landwirte und weitere Bereiche sollen geschützt oder gefördert werden.
In der Sache ist diese Positionierung sowohl in Hinblick auf den Klimawandel als auch in Hinblick auf die Marktentwicklung im Automobilsektor eindeutig falsch: Die Belege für das Bestehen eines menschengemachten Klimawandels sind erdrückend und der batterieelektrische Antrieb wird sich auch ohne weitere Staatsaktivität global durchsetzen. Politisch ist allerdings damit zu rechnen, dass viele Wähler:innen sich von einem solchen nostalgischen Marktradikalismus angezogen fühlen.
In der Außenwirtschaftspolitik setzt die Partei ihren in den letzten Jahren eingeschlagenen Kurs fort: Sie fordert eine Politik im wirtschaftlichen Interesse Deutschlands und möchte sie stärker regionalistisch ausrichten, anstatt global oder atlantisch.
6 Stärkung des Dualismus in der Sozialpolitik: Ein ungedeckter Scheck für Rentner:innen und ein schlechteres Leben für Bürgergeldempfänger:innen (Kapitel 2)
Auf dem Feld der Rentenpolitik ist die Positionierung der AfD paradox: Einerseits ist die Alterssicherung das sozialpolitische Feld, dem die AfD im Laufe ihrer Geschichte die meiste Aufmerksamkeit widmete. In der Partei zirkulierten zahlreiche teils sehr elaborierte Konzeptpapiere. Andererseits bezog die AfD auf diesem Feld nie eine klare Position. Als die Partei 2020 einen eigenen Parteitag zur Sozialpolitik veranstaltete und ein „Konzept zur Sozialpolitik“ verabschiedete, stand zwar die Rentenpolitik im Vordergrund konkret wurde aber wenig gesagt. Man legte sehr ausführlich dar, dass das Rentensystem aus demografischen und kulturellen Gründen vor dem Zusammenbruch stehe, traf aber kaum greifbare Aussagen zur Rentenpolitik. Man wolle das Umlagesystem erhalten und den Bundesszuschuss steigern, gleichzeitig aber auch private und kapitalgedeckte Vorsorge stärken. Über die Entwicklung der zentralen Kenngrößen des Umlagesystems (Rentenniveau, Renteneintrittsalter und Beitragssatz) äußerte man sich nur vage. Die eindringlichen Schilderungen einer nicht mehr abzuwendenden „demographischen Katastrophe“, ließen vermuten, dass alle drei Größen sich in unerfreuliche Richtungen entwickeln müssten (höhere Beiträge, höheres Beitrittsalter, niedrigere Renten), aber gesagt wurde das nicht.
Nun hat man sich für einen anderen Kurs entschieden. Als „ferneres Ziel“ gibt man aus, das Rentenniveau von 53% auf 70% zu steigern. Laut Gesetzeslage ist derzeit ein Niveau von 48% garantiert, mittelfristig eines von 43%, eine längerfristige Garantie von 48% wird diskutiert. Das von der AfD für die Zukunft angestrebte Niveau ist demnach etwa anderthalb Mal so hoch, wie das vom Gesetzgeber garantierte und von anderen Parteien angestrebte.
Die Maßnahmen, die die AfD zur Finanzierung dieses Projekts anführt, können den so ausgeschriebenen Scheck nicht plausibel decken. Man will einige zusätzliche Gruppen in das Rentensystem einbeziehen. Das ist sinnvoll, wird aber das Volumen der Rentenkasse nicht um 50% steigern. Zudem will man die Produktivität erhöhen und mehr Menschen in Arbeit bringen. Auch das ist an sich sinnvoll; wenn aber die Wege dorthin darin bestehen sollen, dass Unternehmenssteuern gesenkt und „das Bürgergeld unattraktiver gemacht wird“, kann man sich gut vorstellen, wer von dieser Politik profitieren und wer darunter leiden wird – und wie gering die Effekte für das Rentensystem ausfallen. Diese neue Orientierung der Rentenpolitik sollte man als uneinlösbares Wahlkampfversprechen interpretieren. Dies gilt umso mehr, wenn man die migrationspolitische Position der AfD mit bedenkt, die eine Gewinnung neuer Arbeitskräfte durch Immigration nur in Ausnahmefällen zulässt.
Die Arbeitsmarktpolitik war in den letzten Jahren der Bereich, in dem sich am ehesten eine Verschiebung der Parteiposition weg vom Marktliberalismus hin zu Sozialprotektionismus beobachten ließ. Zu erkennen war dies als Abgrenzung gegen einige Elemente der Hartz-Reformen. Vor den Hartz-Reformen war die Arbeitsmarktpolitik in Deutschland stark auf das Normalarbeitsverhältnis (Vollzeitstellen ohne Befristung mit armutsfestem Lohn) sowie auf Lebensstandardwahrung im Fall der Arbeitslosigkeit (also die Auszahlung einer am bisherigen Einkommen orientierten Lohnersatzleistung) ausgerichtet. Beides wurde mit den Hartz-Reformen deutlich zurückgefahren. Das Normalarbeitsverhältnis wurde geschwächt, indem u.a. durch die Deregulierung von Leiharbeit und „aktivierende“ Arbeitsanreize ein Niedriglohnsektor geschaffen wurde. Die Lebensstandardsicherung wurde zurückgefahren, indem die Bezugsdauer des stark lebensstandardsichernden Arbeitslosengeldes (danach Arbeitslosengeld I/ALG I) für viele Gruppen gekürzt und die schwach lebensstandardsichernde Arbeitslosenhilfe abgeschafft bzw. mit der Sozialhilfe zum Arbeitslosengeld II (ALG II, heute Bürgergeld) zusammengelegt wurde. In beiden Bereichen versprach die AfD in den letzten Bundestagswahlprogrammen eine Abmilderung: Die Leiharbeit sollte wieder deutlich stärker reguliert, die Bezugsdauer des ALG I sollte stärker an der Vorarbeitszeit orientiert werden – ohne dass die Partei genaue Zahlen genannt hätte.
Wogegen die Partei zu keinem Zeitpunkt Einwände hatte, war die mit den Hartz-Reformen eingeführte Dualisierung der Arbeitsmarktpolitik: Seit den Reformen besteht eine starke Differenz zwischen kurzzeitarbeitslosen Empfänger:innen von ALG I und langzeitarbeitslosen Empfänger:innen von ALG II. Die ersteren erhalten in der Regel nicht nur mehr Geld, sie werden auch besser behandelt und das System versucht, sie in qualifikationsangemessene Arbeit zu bringen. Bei den letzteren greifen dagegen deutlich strengere Maßnahmen und Sanktionen und es besteht Druck zur Annahme von jeder Tätigkeit. Eine solche Dualisierung passt gut zum Weltbild der AfD, das zwischen undeserving poor und deserving poor unterscheidet – oft verbunden mit der Vorstellung, dass die ersteren weiß und deutsch die letzteren nichtweiß und migrantisch seien. Entsprechend bezogen sich die sozialprotektionistischen Forderungen nur auf die, die arbeiteten (mehr Regulierung von Leiharbeit) oder im ALG I waren (stärkere Kopplung der Bezugsdauer an Vorarbeitszeiten).
Im aktuellen Entwurf werden diese Schutzversprechungen zurückgefahren. Das Themenfeld Leiharbeit und prekäre Beschäftigung taucht einfach nicht mehr auf, entsprechend auch keine Forderung nach ihrer Regulierung. Zum Niedriglohnsektor findet sich lediglich eine Überschrift, in der es heißt, dieser solle „entlastet“ werden – ohne dass dem folgenden Text zu entnehmen wäre, was das bedeuten soll. Bei der Bezugsdauer des ALG I nennt die AfD nun erstmals Zahlen – und es stellt sich heraus, dass es für viele Gruppen um eine Verkürzung der Leistungsbezugsdauer geht. Nach drei Jahren Beitragszeit soll der Anspruch nur ein halbes Jahr betragen, nach 15 Jahren wie bisher ein ganzes Jahr, erst nach utopischen 39 Jahren zwei Jahre.
Bei Bürgergeldempfänger:innen wiederum nimmt die AfD den Diskurs von BILD, FDP und Union auf: Das Bürgergeld sei zu bequem und führe dazu, dass sich Arbeit nicht lohne. Menschen säßen lieber zu Hause, anstatt zu arbeiten. Belege dafür, dass diese vermeintlichen Probleme wirklich bestehen, sind dünn. Die auf zwei Seiten ausgesprochen ausführlich dargelegten Maßnahmen laufen vor allem darauf hinaus, Bürgergeldempfänger:innen auf Gedeih und Verderb in Beschäftigung zu bringen – eben das, was seit den Hartz-Gesetzen Programm ist.
7 Weitgehende Kontinuität in der Steuer- und Finanzpolitik: Steuern runter, Schulden runter, Handlungsfähigkeit des Staates runter (Kapitel 3)
In der Steuer- und Finanzpolitik ist die AfD ebenso wie in der Wirtschaftspolitik seit 2013 konstant am marktliberalen Pol aufgestellt. Seit ihrer Gründung fordert die Partei eine „Vereinfachung“ des Steuersystems, die mit Senkungen der Steuerlast einhergehen soll, von der insbesondere vermögens- und einkommensstarke Gruppen profitieren würden. Seit ihrer Gründung betrachtet die AfD öffentliche Schulden als ein Übel. Weil die AfD zugleich einige der größten Ausgabenposten (Bundeszuschuss zur Rentenkasse, Rüstungsausgaben) steigern will, würde eine an diesen Prinzipien ausgerichtete Politik die finanzielle Handlungsfähigkeit des Staates deutlich einschränken. Das ist kein unerwünschter Nebeneffekt, sondern Teil der Absicht: Ein weniger handlungsfähiger Staat heißt in der Vorstellung der AfD mehr Freiheit für „den Bürger“. In den entsprechenden Passagen stellt sich die Partei den Staat nämlich nicht demokratisch als Realisierung von kollektiver Selbstbestimmung, sondern liberal als Einschränkung von individueller Selbstbestimmung vor.
Auch wenn die Partei immer wieder behauptet, es gehe ihr um die arbeitende Mitte und um Familien würden von den von ihr vorgeschlagenen Steuerreformen würden weit überproportional Vermögende, Besserverdienende und Unternehmen profitieren – u.a. sollen Vermögens-, Erbschaft-, Grund- und Grunderwerbssteuer (letzteres nur für Selbstnutzer) abgeschafft und die Unternehmenssteuern gesenkt werden. Neu ist in diesem Bereich, dass die AfD sich für ein erneutes Absenken der Umsatzsteuer in der Gastronomie auf 7% ausspricht – dies war während der Pandemie geschehen und wurde dann von der Ampelregierung entgegen einem explizitem Wahlkampfversprechen von Olaf Scholz wieder zurückgenommen. Diese Initiative kann als Versuch gewertet werden, unter den darüber verständlicherweise frustrierten Unternehmer:innen in der Gastronomie Stimmen zu gewinnen.
Im Schnittfeld von Steuerpolitik und Familienpolitik zeigt sich, dass die AfD ihre Appelle zur staatlichen Zurückhaltung eher selektiv versteht. So will sie durch das Instrument des Familiensplittings – eine auf alle Haushaltsmitglieder ausgeweitete Version des Ehegattensplittings – dazu anregen, dass mehr Menschen Kinder bekommen. Sie nutzt als Steuer- und Finanzpolitik, für den Versuch, das Privatleben zu steuern. Auch von diesem Instrument würden Familien mit hohen Einkommen weit überproportional davon profitieren.
Eine leichte Entschärfung findet sich im Umgang mit Schulden. In vergangenen Programmen forderte die AfD teils einen Abbau der Staatsverschuldung und die Einführung eines Straftatbestandes der Steuerverschwendung. Nun begnügt man sich damit, die Einhaltung der Schuldenbremse zu fordern.
8 Und sonst?
Auch in vielen anderen Bereichen überwiegt die Kontinuität. Man möchte aus dem Euro austreten und die EU durch ein „Europa der Vaterländer als Bund souveräner Staaten“ ersetzen, ist gegen „Massenmigration“, „Islamisierung“, „Parteienstaat“, „Genderideologie“ usw. Man ist für traditionelle Familie (auch wenn man nun darauf verzichtet explizit zu sagen, dass sie aus Mama, Papa und Kind besteht) und für traditionelle Bildung (mit dreigliedrigem Schulsystem, „Leistungsorientierung“ und Ordinarienuniversität). Man positioniert sich weiterhin ausgesprochen russlandfreundlich, möchte Sanktionen aufheben und die Nordstream-Pipelines wiedereröffnen. In einigen Themen verschärft sich die Position etwas, z.B. bei den Maßnahmen zur Erschwerung von Schwangerschaftsabbrüchen. Einige Themen tauchen neu auf bzw. nehmen mehr Raum ein. Dies gilt für Trans-Rechte (die AfD möchte das Selbstbestimmungsgesetz abschaffen und zurück zum verfassungswidrigen Transsexuellengesetz) und Kryptowährung (die AfD hat ihr Herz für „Bitcoin als staatsfreies Geld“ entdeckt). Auch zum Nahostkonflikt äußert man sich nun – mit der für die Partei typischen Prioritärensetzung: