Sport ist seltsam. Zehn Punkte zum „Schutz des Frauensports vor Transfrauen“

Immer, wenn ich über die jüngst rund um den „Fall“ Imane Khelif wieder aufgeflammten Debatten um den „Schutz des Frauensportes vor Transfrauen“ nachdenke, fällt mir vor allem auf, was für eine absurde Institution Leistungssport ist und wie seltsam die ihn definierenden Grenzen sind. Zehn Punkte.

1 Schon das Prinzip Leistungssport ist seltsam: Wir definieren in einigermaßen willkürlicher Weise ziemlich merkwürdige Ziele (sich so schnell wie möglich bewegen, aber bitte über genau diese Strecke mit genau diesen, aber bloß nicht jenen Hilfsmitteln und zwar genau ab dem Moment, in dem es knallt; eine Metallstange mit möglichst schweren Metallscheiben auf genau diese oder genau jene Weise über den Kopf heben und dort mindestens soundso lange halten; genau soundso viele Projektile in genau soundsoviel Zeit mit genau dieser Gerätschaft in ein genau soundso großes und genau soundso weit entferntes Ziel bringen; eine andere Person möglichst fest und oft hauen, aber nur auf genau diese und jene Art und Weise und nur, wenn man maximal soundsoviel wiegt; usw. usf). Und dann lassen wir Menschen diese Ziele um die Wette verfolgen. Dass wir so etwas tun, ist schon sehr seltsam.

2 Dann ehren und verehren wir die Menschen, die diese seltsamen und willkürlichen Ziele am besten erreichen. Wofür wir sie genau verehren, ist gar nicht klar. Für ihr „Talent“, also dafür, dass sie die Veranlagung haben, besonders schnell rennen zu können etc.? Für ihre Selbstdisziplin und Opferbereitschaft, also dafür, dass sie alles tun, um ihr Potenzial auch realisieren? Oder für die schiere „Leistung“, also dafür, dass sie am Ende besonders schnell rennen etc.? Man weiß es nicht, aber wir tun es. Seltsam.

3 Bei den wirklich kompetitiven (weil von vielen Menschen mit großem Ehrgeiz praktizierten) Sportarten hat man nur dann eine Chance, zur Weltspitze zu gehören und entsprechend geehrt zu werden, wenn einige Bedingungen erfüllt sind: Erstens braucht man rund um die entscheidenden Wettkampftage kurzfristig Glück (keine Verletzung, keine Krankheit, vll. ein Ausfall der Konkurrenz, ggf. der richtige Wind im richtigen Moment etc.). Zweitens muss man in Jugend und jungem Erwachsenenalter möglichst das ganze Leben danach ausrichten, genau diese Leistung bestmöglich zu erbringen, man muss also den eigenen Körper und die eigene Psycho so zurichten, dass man möglichst schnell läuft usw. (Jaja, ich weiß, der türkische Schütze, es ist aber kein Zufall, dass er nicht 100m-Läufer wurde.) Drittens muss man unter gesellschaftlichen Bedingungen aufwachsen, die einen überhaupt auf die Idee bringen und einem dann auch noch die Möglichkeit geben, das eigene Leben in dieser Weise auszurichten. Viertens – und darauf kommt es hier an – muss man zumindest bei den wirklich kompetitiven und körperbetonten Sportarten auch noch die richtige genetische Ausstattung mitbringen – bei den meisten Menschen steht quasi ab Zeugung fest, dass sie nie zur Weltspitze im Sprint, Schwimmen oder Boxen gehören werden. In den meisten Gesellschaftsbereichen wird eher zu viel über Gene gesprochen, aber beim Spitzensport haben sie ihre Relevanz. Wer in kompetitiven körperbetonten Sportarten zur Weltspitze zählen will, muss zuallererst in der Gen-Lotterie ein sehr gutes Los gezogen haben (und dann Glück mit dem gesellschaftlichen Kontext haben und dann das Leben entsprechend ausrichten und dann kurzfristiges Glück haben).

4 Doch auch wenn wir Sportler:innen durch die Institution Leistungssport dazu antreiben, ihr ganzes Leben auf die bestmögliche Erfüllung der einigermaßen willkürlich definierten Ziele auszurichten, dürfen sie das doch nur in bestimmtem Maße tun. Die Ziele müssen in einer „fairen“ und „sauberen“ Weise erreicht werden, damit der Wettbewerb fair ist. Dabei geht es insbesondere um Doping. Spitzensportler:innen müssen ihre Ernährung so ausrichten, dass es ihre Leistung steigert. Dazu zählt neben einer unmenschlichen Menge an Training freilich auch die Einnahme von gar nicht so „natürlichen“ Substanzen in gar nicht so „natürlichen“ Mengen. Zugleich dürfen sie aber manche Substanzen nicht zu sich nehmen, weil sie leistungssteigernd und zugleich gesundheitsschädlich oder irgendwie besonders „unnatürlich“ sind (außer es ist bei ihnen medizinisch indiziert, dann geht es vielleicht doch). Das ist irgendwie schon sinnvoll (man will keinen Dopingwettbewerb, in dem Menschen ihre Körper schnell ruinieren, indem sie um die Wette spritzen). Aber die genaue Grenzziehung ist auch einigermaßen willkürlich und seltsam. (Analoges gilt für die Frage, welche technischen Feinheiten an Gerätschaften und Bekleidung erlaubt sind und welche nicht.) Seltsam wird das irgendwie plausible Verbot von leistungssteigernden und gesundheitsschädlichen Mittelchen unter anderem dadurch, dass Leistungssport ohnehin eher gesundheitsschädlich ist. Nicht falsch verstehen, Bewegung und Sport sind insgesamt gesund und wahrscheinlich sind die meisten Leistungssportler gesünder als die meisten anderen Menschen. Noch gesünder könnten sie aber sein, wenn sie nur normal Sport betrieben, anstatt ihren Körper an die Grenzen zu bringen, um ihn auf seltsame Ziele auszurichten. Wer Leistungssport betreibt, schadet in der Regel dem eigenen Körper (und der Psyche) so oder so – aber bestimmte Arten der leistungssteigernden Selbstschädigung oder Selbstgefährdung sind dann doch wieder verboten. Noch seltsamer wird es, wenn das Dopingverbot mit der Norm des fairen Wettbewerbs begründet wird. Denn der Wettbewerb ist ja ohnedies von vornherein ungleich. Wie gesagt hat eine echte Chance eh nur, wer in der Genlotterie Glück hatte, unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen aufwuchs usw. Der faire Wettbewerb wird also gegen die Übermacht eines gedopten Lance Armstrong geschützt, aber nicht gegen die ebenso große Übermacht eines (vermutlich nicht gedopten) Michael Phelps bzw. Usain Bolt. Ein den Wettbewerb entscheidender Vorteil durch Gene geht in Ordnung, einer durch einen guten Arzt oder Pharmazeuten nicht. Am Ende schützt man also den „fairen“ Wettbewerb von Genlotteriegewinnern, die unter passenden gesellschaftlichen Bedingungen aufwachen und ihr Leben in einer gesundheitsschädlichen Weise auf ein einigermaßen willkürlich definiertes Ziel ausrichten, vor dem „unfairen“ Wettbewerb durch Menschen, die zusätzlich noch etwas gesundheitsschädlichere Mittel hinzuziehen.

5 Zu all diesen Seltsamkeiten kommt beim Frauensport eine weitere hinzu. [Disclaimer: In diesem und dem nächsten Abschnitt spreche ich, als gäbe es einfach nur Frauen und Männer und als wäre klar, wo die Grenze verläuft.] Frauen sind gegenüber Männern in den allermeisten Sportarten in ihren genetischen Voraussetzungen benachteiligt – nicht alle Frauen gegenüber allen Männern, aber sowohl die Durchschnittsfrau gegenüber dem Durchschnittsmann als auch die (in Hinblick auf diese oder jene Sportart) genetisch am meisten begünstigten Frauen gegenüber den genetisch am meisten begünstigten Männern. Das heißt, wenn es keinen eigenen Frauensport gäbe, könnten wohl in den allermeisten Disziplinen gar keine Frauen an olympischen Spielen teilnehmen. Das wäre offensichtlich Mist, also hat man sich entschieden, getrennte Wettbewerbe für Frauen und Männer einzuführen (oder zu quotieren, wie viele Frauen oder Männer im „gemischten“ Team sein müssen).

6 Das ist an sich sehr sinnvoll (sofern dieser seltsame Spitzensport überhaupt sinnvoll ist). Allerdings fügt es den Seltsamkeiten des Leistungssports eine weitere zu: Damit es Frauensport gibt, muss dieser in einer Weise durch Regeln exklusiv gehalten werden, die beim Männersport nicht notwendig wäre (was nicht heißt, dass es sie nicht gäbe): Beim 100m-Lauf der Männer bräuchte es keine Regel, die Frauen ausschließt (es würde sich auf Spitzenniveau ohnehin keine Frau qualifizieren). Beim 100m-Lauf der Frauen, braucht es aber eine Regel, die Männer ausschließt. Noch einmal: Das ist an sich auch sehr sinnvoll, führt aber in der Konsequenz zu einer weiteren Paradoxie: Mit dem Frauensport wird eine im Durchschnitt und in der Spitze genetisch relativ benachteiligte Gruppe (Frauen) vor dem Wettbewerb durch eine im Durchschnitt und in der Spitze genetisch relativ bevorteilte Gruppe (Männer) geschützt. Aber innerhalb der auf diese Weise geschützten Gruppe Frauen gilt natürlich weiterhin, dass keineswegs alle Frauen eine Chance auf die Weltspitze haben, sondern nur diejenigen Frauen, die bei der Genlotterie ein gemessen an allen anderen Frauen sehr gutes Los gezogen haben (auch wenn das Los gemessen an der ganzen Menschheit so gut wieder nicht ist). Für die genetische Durchschnittsfrau ist der Wettbewerb mit den genetisch am meisten begünstigten Frauen ungefähr so unfair wie der Wettbewerb mit Männern. Geschützt werden also die relativ am meisten begünstigten Frauen vor der Konkurrenz durch noch mehr begünstigte Männer. Auch das ist auf seine Weise sehr sinnvoll – zum Beispiel wird so qua Repräsentanz vorgeführt, dass Frauen „Spitzenleistungen erbringen“ können. Aber es fügt allen genannten Seltsamkeiten eine weitere hinzu.

7 Wirklich kompliziert wird es dadurch, dass Geschlecht schon „rein biologisch betrachtet“ nicht binär ist. Der Ausschluss von Cis-Männern aus dem Frauensport ist relativ banal – und soweit ich es überblicke, auch unumstritten. Kontrovers wird es beim „Schutz“ des Frauensports vor (bestimmten) Transfrauen oder (bestimmten) intersexuellen Personen. Es ist plausibel anzunehmen, dass manche Transfrauen und manche intersexuellen Personen einen unbilligen genetischen Vorteil gegenüber Cis-Frauen haben (weil z.B. viel Testosteron beim Muskelaufbau helfen kann). Deshalb lässt sich die Forderung, dass Frauensport auch vor solcher „unfairen Konkurrenz“ zu „schützen“ ist, nicht auf transphobe Paranoia reduzieren – was nicht heißt, dass es diese Paranoia nicht gäbe, siehe unten. [Das Argument, dass bestimmt kein Mann als Frau antreten wird, nur um Gold zu gewinnen, überzeugt mich nicht so ganz. Bei all dem, was im Spitzensport so getan (und Menschen angetan) wird, wäre ich mir da nicht so sicher. Noch weniger sicher bin ich mir, da es spätestens angesichts der Debatte ein paar transphobe Troll-Ottos geben wird, die sagen, dass sie sich als Frau fühlen, um darzulegen, dass es die Grenzen geben muss, die es dann allerspätestens deswegen irgendwie wirklich geben muss.]

8 Allerdings ist dieser „Schutz“ eben viel komplizierter als der vor Cis-Männern. Denn die Grenzen sind unscharf. Um nur zwei Probleme zu nennen: Zum einen ist gar nicht immer trivial zu entscheiden, ob jemand „intersexuell“ oder eine Cis-Frau ist. Eine Person kann ab Geburt ein durchgehend als weiblich gelten und ein ganzes Leben lang unhinterfragt als Mädchen bzw. Frau leben, aber nach gewissen biologischen Kriterien doch als „intersexuell“ eingestuft werden, sobald ein entsprechender Test durchgeführt wird (Chromosomen, Hormone etc.). Zum anderen ist es keinesfalls so, dass alle „Intersexuellen“ oder alle Trans-Frauen einen unfairen Vorteil gegenüber Cis-Frauen hätten. Und warum sollte man diejenigen ausschließen, die keinen unfairen Vorteil haben – sie haben ja Menschenrechte, die ihrem Ausschluss entgegenstehen? Und wenn es nun kompliziert ist, muss man eben auch fragen, was da nun der passende Maßstab ist, um die unscharfen Grenzen zu ziehen: Chromosomen? Hormone? Muskelmasse? Maximalkraft? Zu welchem Zeitpunkt etc.? [Eine weitere Komplikation könnte dadurch hinzukommen, dass die „normale“ Menge an Testosteron bei Frauen je nach Bevölkerungsgruppe statistisch unterschiedlich sein und es unter schwarzen Afrikaner:innen mehr Frauen mit relativ höheren Werten als unter weißen Europäer:innen geben könnte. Wenn man dann die Durchschnittswerte von weißen Europäer:innen zum Maßstab machte, bestünde die Gefahr, dass der „Schutz“ des Frauensports einen Schutz weißen Sports durchsetzte, wofür es keine sehr guten Gründe gäbe.] Die Grenzen sind also alles andere als selbstverständlich. Und weil die Grenzen sich nicht von selbst verstehen, beinhaltet die konkrete Grenzziehung ein gewisses Maß an Willkür – verschieden Grenzziehungen lassen sich gleich gut begründen. Zudem kann es sein, dass ein und dieselbe Person zum einen Zeitpunkt auf dieser, zum nächsten auf jener Seite der Grenze ist – Hormonwerte schwanken. Insofern ist es vorstellbar, dass sowohl IAB als auch IOC plausible Kriterien definiert haben und diese korrekt anwendeten, aber bei Imane Khelif dennoch zu unterschiedlichen Ergebnissen kamen (allerdings traue ich keiner dieser Organisationen so ganz).

9 Auch wenn das alles nun sehr kompliziert ist, gibt es einen Faktor, der es deutlich einfacher machen könnte: Es gibt in der Realität gar nicht so viele Streitfälle. Es gibt keine Massen von Transfrauen und Intersexuellen, die in den Leistungssport der Frauen strömen, Frauen dort deklassieren, Medaillen einsacken und so den Frauensport zerstören. Doch leider wirkt dieser potenziell entschärfende Faktor in den Debatten kaum entschärfend. Anscheinend ist die Überzeugung, es müsse da ein wirklich großes Problem mit Transfrauen im Frauensport geben oder es drohe zumindest eines zu entstehen, so weit verbreitet, so tief verankert und moralisch so stark aufgeladen, dass viele Beobachter:innen regelrecht auf einen entsprechenden Fall warten. Anders ist die extreme Aufregung um den „Fall“ Imane Khelif kaum zu erklären. Denn eigentlich wäre das Beispiel vor allem geeignet darzulegen, wie schwierig die Grenzziehung beim „Schutz“ des Frauensports ist. Allein die Tatsache, dass IBA und IOC bei ihren „Tests“ des Frauseins unterschiedliche Ergebnisse erzielten, könnte das vermuten lassen. Zudem müsste an dem Fall jedem halbwegs empathischen Menschen klar werden, dass es mitunter gar nicht um den Ausschluss von bösen Männern geht, die als Frauen auftreten, um „echten Frauen“ zu schaden. Denn es besteht wenig Grund, daran zu zweifeln, dass Imane Khelif ihr Leben lang als Mädchen bzw. Frau lebte und sie für ihre Boxkarriere ebenso viele Opfer gebracht, sich ebenso sehr angestrengt hat wie andere Spitzensportler:innen auch. Selbst wenn man zu dem Schluss käme, dass es richtig wäre, sie auszuschließen, müsste man als halbwegs empathischer Mensch doch sehen, dass das eine tragische Geschichte wäre – und keine moralische Geschichte über die gerechte Bestrafung einer bösen Person. Dennoch wurde der „Fall“ von Anfang an von vielen als Geschichte über einen Mann oder eine Transfrau verstanden, der/die Frauen verprügelt und dafür von einem frauenfeindlichen System belohnt wird. Eben deshalb ist zu vermuten, dass viele regelrecht auf einen solchen „Fall“ warteten – denn wenn man allzu sehr auf einen solchen Fall wartet, sieht man ihn auch dann, wenn er gar nicht da ist.

10 Besonders seltsam ist, dass viele Beschützer:innen des Frauensports ernsthaft zu glauben scheinen, schon an zwei Bilden von Imane Khelif sehen zu können, dass sie „keine Frau“ ist. Diese Menschen können in ihrem Leben noch nicht viel Frauensport gesehen haben – kein 100m-Finale, kein Gewichtheben und auch kein Boxen. Denn sonst wüssten sie, dass Frauen sehr wohl einen Körper haben können wie Imane Khelif.