Kurz vor ihrem Ende habe auch ich es zur Documenta 15 geschafft und gebe hier meine Eindrücke als politisch und kulturtheoretisch interessierter trotziger Banause mit Klassenressentiments zum Besten:
1) Vorneweg: Ich bin als Berichterstatter von zweifelhaftem Wert, weil ich mich vor ein paar Jahren zu trotzigem Banausentum entschieden habe. Während ich mich an Universitäten mittlerweile weitgehend gewöhnt habe, empfinde ich den Besuch von Museen, Theatern, Konzertsälen, Lyriklesungen, Weinverkostungen, Sternerestaurants oder Unternehmerverbandsversammlungen weiterhin als Klassenverrat. Ich spare weitere biografische Erzählungen und Ambivalenzen aus, aber unterm Strich gilt: Ich fühle mich an diesen Orten fremd und das, was da passiert, kommt mir in erheblichem Maße wie Bespaßung von Bürgerkindern für Bürgerkinder vor – und das relativ unabhängig davon, ob die nun konservative Puderperücken oder linksradikale Undercuts bzw. Topfdeckelschnitte tragen. (Und ja, das hat auch viel mit Faulheit und Trotz meinerseits zu tun und ist ziemlich ungerecht, daher die subjektiven Formulierungen.)
2) In dieser Frage muss ich sagen, dass ich die Documenta 15 (irgendwas sträubt sich gegen „documenta fifteen“) tatsächlich als ein gutes Stück offener und freundlicher empfand als die meisten derartigen Institutionen. Das gilt nicht nur, weil es bei der Mehrzahl der dieses Jahr in Kassel Ausstellenden mehr als zynisch wäre, wenn jemand wie ich sie als „Bürgerkinder“ abtäte. Auch die Gestaltung der Räume war einfach relativ freundlich und offen. Zugleich fängt hier schon an, was für alles weitere gilt: Ich empfand die Unterschiede zu den letzten beiden Documentas (mehr kenne ich nicht, deshalb sind die der Vergleichsmaßstab) eher als graduell denn als fundamental.
3) Das gleiche gilt auch für das „Kunstverständnis“ oder wie das heißt. Es mag ja sein, dass die Kuration dieses Mal ganz anders funktionierte und dass mehr Kunst von Kollektiven als Individuen ausgestellt wurde. Aber das Ergebnis schien mir nicht so fundamental anders als in den letzten beiden Auflagen. Gerade bei der Documenta 13 ging es meiner Erinnerung nach auch schon viel um eine Dekonstruktion eines westlich-bürgerlichen Kunstverständnisses; bei beiden der letzten Schauen gab es auch schon politisch engagierte Kunst von marginalisierten Künstler:innen. Usw. usf. Klar, war das dieses Mal eher vorherrschend, aber so grundlegend anders erschien es mir nicht.
4) Das gilt auch für den politischen Gehalt. Politisch engagierte Kunst von links läuft leider in gut 50% der Fälle auf eine Darstellung der Welt hinaus, in der ein gutes, vielfältiges, menschliches, natürliches Leben auf der einen Seite und eine böse von Konzernen, Politiker:innen und Militär dominierte Maschinerie auf der anderen Seite kontrastiert werden. Verbunden ist das in aller Regel dann mit Antiimperialismus. Sowas passiert manchmal als offensive Agitprop, manchmal in weniger offensiver (aber meist immer noch nicht wirklich subtiler) Form mit identischer Substanz. Derartiges habe ich (glaube ich) auf den letzten beiden Documentas gesehen und ich habe es (mit Sicherheit) dieses Mal gesehen – wobei es dieses Mal freilich deutlich mehr Raum einnahm. Jedoch waren (zum Glück) auch dieses Mal nicht alle Werke offensiv politisch und nicht alle politischen Werke so plump. Vieles (z.B. Amol K Patil, Wakaliwood, Atis Rezistans) fand ich gelungen und so interessant, wie ich Kunst eben finde.
5) Und klar ist solche politische Kunst immer anschlussfähig an Antisemitismus verschiedener Bauart. Insofern kann es kaum überraschen, dass es dieses Mal gleich mehrere eindeutige und darüber hinaus viele nicht ganz so eindeutige, aber mit guten Gründen kritisierbare Fälle gab. Das scheint mir fast eine statistische Frage zu sein: Wenn die Wolke der politisch engagierten Kunst im oben genannten Sinne größer ist, wächst tendenziell auch die Zahl der daraus schlagenden antisemitischen Blitze.
6) Wichtig finde ich dabei zu betonen, wie wenig „kulturell fremd“ oder „kulturell anders“ mir das alles erscheint. Gerade die Werke von Taring Padi stimmen zu 97% mit dem überein, was ich vor gut 20 Jahren in autonomen Zentren in Deutschland so an Kunst sah. Das gilt sowohl für die Techniken als auch für die Ästhetik als auch für den Inhalt. Sicherlich ist die Entwicklung eines solchen Weltbildes und einer solchen Ästhetik im Widerstand gegen das Suharto-Regime deutlich plausibler und nachvollziehbarer als im “Widerstand gegen das Kohl-Regime”, aber die Ähnlichkeit bleibt frappierend. Und ja, auch in der AZ-Kultur gab und gibt es viel, das man als antisemitisch bezeichnen muss, obwohl man bei den entsprechenden Karikaturen wohl meist auf Davidsterne verzichtet hätte. Freilich gilt: So etwas ist deutlich gewichtiger, wenn es bei der öffentlich finanzierten „größten Kunstschau der Welt“ auf einem zentralen Platz ausgestellt ist, als wenn es in irgendeinem AZ rumhängt.
7) Deutlich schlimmer als erwartet fand ich die „Tokyo Reels“. Erst im Kontext betrachtet wurde mir klar, wie beschissen das in wirklich jeder Hinsicht ist. Zunächst ist mir reichlich schleierhaft, warum weitgehend unkontextualisierte und unkommentierte Propagandafilme aus dem Archiv antiimperialistischer Gruppen ein ausstellenswertes Kunstwerk sein sollen. Schlimmer wird das noch dadurch, dass diese Filme eines der am bequemsten zu konsumierenden Exponate in einem Gebäude mit teils eher sperrigen Objekten waren. Wenig überraschend, dass erhebliche Teile der anwesenden Schulklassen sich lieber bequem vor die Leinwand setzten und Snuff-Filme schauten, anstatt sich durch irgendwelche Räume mit Skulpturen zu quälen. Dass am Eingang ein Zettel klebte, demzufolge dieses Exponat nichts für Kinder und schwache Nerven sei, dürfte die Attraktivität eher noch gesteigert haben (keine Ahnung, ob die Zettel eine Reaktion auf die Kritik waren, wenn ja, dann die allerzynischste). So sitzen dann Jugendliche vor Terrorpropaganda und Snuff-Videos. Geil.