Am 27. Mai erschien mein Text über die vermeintliche Cancel Culture an deutschen Universitäten unter dem Titel “Das Gespenst der Cancel Culture” im Tagesspiegel. Der folgende Text ist eine ausführliche Fassung des Artikels.
Nun hat es auch noch Cornelia Koppetsch getroffen! Auch sie wurde nun wie so viele vor ihr ein Opfer von linker Intoleranz, Political Correctness und Cancel Culture, die die Freiheit der Meinung und Wissenschaft an deutschen Universitäten bedrohen! Das könnte man zumindest meinen, wer viel Zeit mit der Lektüre von Feuilletonartikeln – dieses Mal in Form eines Texts von Sara Rukaj in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung –, aber wenig Zeit in Universitäten verbringt. Wer dagegen den Alltag des akademischen Betriebs kennt, kann sich angesichts entsprechender Berichte über die vermeintlichen Zustände in diesen Institutionen nur verwundert die Augen reiben.
Diejenigen, die hierzulande in Lehre und Forschung tätig sind, haben es mit vielen Problemen zu tun, die die Arbeit erschweren: befristete Verträge, immer zahlreicher werdende Verwaltungsaufgaben, hohe Lehrdeputate, überfüllte Seminarräume, die Paradoxien des Drittmittelwesen, wachsender Publikationsdruck, seit neuestem die Umstellung auf digitale Lehre usw. usw. All dies lässt immer weniger Zeit für die Art sorgfältigen Nachdenkens, die nötig wäre, um von der Wissenschaftsfreiheit auch sinnvollen Gebrauch zu machen. Wenn aber „Cancel Culture“ auf der Liste der Hemmnisse überhaupt auftaucht, dann sehr weit unten. Zu diesem Ergebnis kam zuletzt auch eine vom Institut Allensbach im Auftrag des Deutschen Hochschulverbandes und der Konrad-Adenauer-Stiftung durchgeführte Umfrage. Obwohl diese Umfrage in Kommunikation und Fragestellung eindeutig darauf ausgelegt war, „Political Correcntness“ als Problem für die Wissenschaftsfreiheit zu identifizieren, bestätigte nur eine kleine Minderheit der befragten Hochschullehrer die Existenz dieses Phänomens – deutliche Mehrheiten verwiesen dagegen auf Zeit- und Publikationsdruck als Probleme.
Inhalt
„Fälle“, die keine Fälle sind…
Der Begriff „Cancel Culture“ kommt aus den USA und soll für eine Kultur des Absagens stehen: Wer Positionen vertrete, die nach den Maßstäben linker „Diskurswächter“ nicht als „politisch korrekt“ gälten, laufe Gefahr, alle Möglichkeiten zur öffentlichen Äußerung zu verlieren. Wie groß dieses Problem in den USA wirklich ist, muss hier dahingestellt bleiben. An deutschen Universitäten ist es jedenfalls fast inexistent. Das erkennt man schon daran, dass in den entsprechenden Diskussionen seit Jahren immer wieder dieselben „Fälle“ als Beispiele genannt werden, die bei genauerer Betrachtung gar keine sind.
So wird bis heute darüber geschrieben, dass 2015 (mutmaßlich) Studierende der Humboldt-Universität einen anonymen Blog schufen, um eine Vorlesung des Politikwissenschaftlers Herfried Münkler zu kritisieren. Die auf dem Blog veröffentlichten Texte wurden den Thesen Münklers in keiner Weise gerecht, der Ton war denunziatorisch und die vermeintliche inhaltliche Kritik verfehlte ihren Gegenstand um Längen. Jedoch war es eben nur das: Ein anonymer Blog irgendwo im Internet, in dem schlechte, mutmaßlich von Studierenden verfasste Texte über eine Vorlesung publiziert wurden. Hätte Münkler diese Angelegenheit nicht offensiv aufgegriffen und wäre sie in großen Medien nicht so breit als Beispiel für die vermeintliche Gefährdung der Meinungsfreiheit an Universitäten diskutiert worden, wäre der Blog gar nicht weiter aufgefallen und wirkungslos geblieben. Damit hätte er sich zwischen zahllose vergessene Pamphlete von ähnlicher Qualität eingereiht, mit denen Studierende ihre Lehrenden schon lange vor der Erfindung des Internets angegriffen haben. Wie ein solcher Blog die Meinungsfreiheit eines renommierten Wissenschaftlers gefährden soll, der seine Thesen regelmäßig in großen Medien veröffentlicht, ist rätselhaft. Dies gilt umso mehr, wenn man die Angriffe ins Verhältnis zu dem setzt, was Frauen oder von Rassismus betroffene Personen regelmäßig widerfährt, sobald sie sich öffentlich äußern – zumeist ohne, dass dies für große mediale Empörung sorgen würde. Wenn der Blog etwas über Meinungsfreiheit aussagen kann, dann als Beispiel dafür, dass diese auch für Äußerungen gilt, die die öffentliche Debatte nicht bereichern.
Ein weiterer seit Jahren immer wieder genannter „Fall“ ist der des ebenfalls an der Humboldt-Universität beschäftigten Historikers Jörg Baberowski, dessen Kleinkriege mit verschiedenen Studierendengruppen mittlerweile zu zahlreich sind, um sie hier nachzuerzählen. Wie es bei Kleinkriegen oft der Fall ist, sind diese Streitigkeiten durch Aggressionen und Tiefschläge von beiden Seiten gekennzeichnet, sodass hier ebenfalls keine Rede davon sein kann, dass ein Professor „Opfer“ einer linken Zensurkultur würde – schon gar nicht, wenn der fragliche Professor zwar nicht für jedes Drittmittelprojekt eine Bewilligung erhält, sich aber weiterhin regelmäßig an prominenten Stellen öffentlich äußert.
…und eine „Häufung“ die keine ist
Im Jahr 2019 schien es dann zu einer Häufung entsprechender Vorfälle zu kommen – doch bei genauerer Betrachtung entpuppt sich diese als eine Zusammenziehung sehr unterschiedlicher Konflikte, die in der Summe wiederum nicht auf eine virulente Kultur des Absagens schließen lassen.
Den Anfang machte eine von Susanne Schröter organisierte Tagung über islamische Verschleierung an der Universität Frankfurt. Die Positionen, die die Ethnologin zu diesem Thema vertritt, sind – wie eigentlich alle Positionen, die man zum Thema vertreten kann – kontrovers und Schröter schreckt vor öffentlichem Streit auch eindeutig nicht zurück. Einige Studierende sahen die Positionen der Professorin und die ganze Tagung nicht nur als einseitig, sondern auch als rassistisch an und forderten eine Absage der Veranstaltung. Wäre diese Position an Universitäten auch nur ansatzweise mehrheitsfähig, könnte man wohl in der Tat von Cancel Culture und einem erheblichen Problem für die Wissenschaftsfreiheit sprechen. Jedoch zeigte sich das genaue Gegenteil. Nicht nur die Universitätsleitung, sondern auch die Studierendenvertretung sowie zahllose Kolleginnen und Kollegen aus dem ganzen Land sprachen sich entschieden für die Durchführung der Tagung aus – bei unterschiedlicher Bewertung von deren Inhalt. Dass die kleine Minderheit, die eine Absage forderte, ihre Proteste dennoch durchführen konnte, spricht daher nicht für eine etablierte Kultur der Zensur und des Absagens, sondern eben dafür, dass an den Universitäten Meinungsfreiheit herrscht.
Einige Monate später begann das Wintersemester und damit die Affäre um Bernd Luckes von scharfen Protesten begleitete Rückkehr an die Universität Hamburg. Als auf Lebenszeit verbeamteter Professor hat Lucke das Recht, nach seiner Zeit in der Politik wieder zu lehren. Jedoch ergibt sich aus diesem Recht keine Pflicht für die Studierenden seiner Universität, dies auch ohne Proteste hinzunehmen. Wichtig an dieser Stelle: Es ging bei den Protesten nur am Rande darum, dass Lucke Meinungen geäußert hätte, die aus einer linken Sicht schwer zu ertragen sind – das hat er zweifelsohne getan, aber diese Äußerungen standen nicht im Mittelpunkt des Protests. Vielmehr ging es darum, dass er eine rechtsradikale Partei mitbegründet und damit die politische Landschaft in Deutschland nachhaltig verändert hatte – das ist nicht eben ein kleiner sprachlicher Fehltritt. Freilich werden durch eine Parteigründung keine Rechtsansprüche verwirkt und sind Hörsaalblockaden gegen ehemalige Politiker, die ihre Partei schon längst verlassen haben, keine antifaschistischen Heldentaten – erst recht nicht, wenn sie mit körperlicher Gewalt einhergehen. Aber als Beleg für eine „politisch korrekte“ Meinungsdiktatur, die die Wissenschaftsfreiheit gefährden könnte, taugen die Vorgänge kaum.
Glaubt man aber dem Diskurs über linke Meinungsdiktatur, ging es nun Schlag auf Schlag: Kurz nach Luckes erster Vorlesung musste ein Vortrag von Ex-Bundesinnenminister Thomas de Maizière im Göttinger Rathaus ausfallen, weil linke Protestierende die Zugänge zum Gebäude blockierten. Nun nahm die öffentliche Moralpanik richtig Fahrt auf: Erst trifft es den AfD-Gründer, nun einen ehemaligen CDU-Minister! Die Einschläge kommen näher! Wo soll das nur enden? Jedoch: Es führt keine Linie vom einen „Fall“ zum anderen. Den Protestierenden in Göttingen ging es überhaupt nicht darum, de Maizière wegen vermeintlich unerträglicher Positionen die Plattform für öffentliche Meinungsäußerung zu entziehen. Vielmehr richtete sich der Protest gegen die türkische Invasion der kurdischen Gebiete in Nordsyrien. Die Protestierenden versuchten lediglich, de Maiziéres Veranstaltung ihrerseits als Plattform zu nutzen, um sich selbst Aufmerksamkeit zu verschaffen. Dieser Versuch ging zweifelsohne nach hinten los, denn niemand sprach anschließend vom Krieg in Nordsyrien. Man kann diese Art des Blockade-Protests mit guten Gründen als illegitim bewerten. Bevor man aber von einer „neuen Qualität“ spricht, sollte man bedenken, was bei früheren Protesten so alles blockiert wurde – zum Beispiel das ganze Bonner Regierungsviertel, als 1993 im Bundestag das Asylrecht eingeschränkt werden sollte. Vor diesem Hintergrund von einer Bedrohung der Demokratie zu sprechen, wenn dann im Rahmen von Protesten gegen einen Krieg eine Vortragsveranstaltung blockiert wird, ist unverhältnismäßig
Als sich schließlich auch noch Christian Lindner öffentlichkeitswirksam in die Reihe der vermeintlich Zum-Schweigen-Gebrachten stellte, drängte sich der Eindruck auf, dass er angesichts des Hypes auch noch mitspielen und etwas von der Aufmerksamkeit und Opferstatus abbekommen will. Denn bei der Nichtvergabe des Raumes für eine Diskussionsveranstaltung, die er an der Universität Hamburg bestreiten wollte, aber nicht durfte, ging es gar nicht um irgendwelche Positionen, die er vertritt. Es ging lediglich um die Regelung, derzufolge die Universität keine Räume für parteipolitische Veranstaltungen bereitstellt.
Fehlverhalten ja, aber keine Kultur des Absagens
Man kann in den meisten angesprochenen Begebenheiten mit guten Gründen ein Fehlverhalten aufseiten der beteiligten Studierenden bzw. Protestierenden sehen und auch die Hamburger Richtlinie gegen parteipolitische Veranstaltungen an der Universität für falsch halten. Jedoch ergibt sich gerade in der Zusammenschau kein Hinweis auf eine virulente Kultur des Absagens, bei der missliebige Meinungen an Universtäten von einer vermeintlichen linken Meinungsführerschaft mundtot gemacht würden. Selbst da, wo es überhaupt um missliebige Meinungen ging, wurde niemand mundtot gemacht. Dort, wo Kritik tatsächlich in einer autoritären Weise formuliert wurde, die auf ein Zum-Verstummen-Bringen der Kritisierten zielte, blieb sie marginal und wurde von breiten Mehrheiten zurückgewiesen.
Die ständige Rede von Meinungsdiktatur, Diskurswächtern und Cancel Culture erweist sich somit als haltlos und ideologisch. Sie wird der Realität an deutschen Universitäten in keiner Weise gerecht, gibt denjenigen, die darüber sprechen, aber die Möglichkeit, sich als Opfer einer vermeintlichen linken Hegemonie zu inszenieren. Damit können sie zugleich jede Kritik an Rassismus, Sexismus oder Antisemitismus als Meinungsdiktatur abtun, ohne sich inhaltlich mit ihr auseinanderzusetzen zu müssen.
Weil das Bedürfnis nach Berichten über linke Meinungsdiktatur so groß, die realen Fälle aber fast inexistent sind, greift man bereitwillig nach jedem Strohhalm, der eine Bestätigung des vorgefertigten Weltbildes verspricht.
Kritik wird als Zensur umgedeutet
Wenn es dann aber nicht einmal einen solchen Strohhalm gibt, denkt man sich die Fälle kurzerhand aus. Dies geschieht in Sara Rukajs Darstellung der Diskussion um Cornelia Koppetschs Gesellschaft des Zorns. Dieses Buch wurde im Frühjahr 2019 publiziert, im Folgenden in fast allen Feuilletons von NZZ bis taz, von Freitag mit FAZ gefeiert und dementsprechend zu einem Bestseller. Zu diesem Erfolg dürfte beigetragen haben, dass es sich nicht um eine trockene wissenschaftliche Studie, sondern um einen mit vielen Theoriereferenzen versehenen politischen Essay handelt. Darin führt die Soziologin den Aufstieg der radikalen Rechten auf eine neue Form von Klassenkampf zurück. In diesem stünden auf der einen Seite liberal-kosmopolitische Milieus, die von Globalisierung und Pluralisierung profitierten, auf der anderen Seite traditionsgebundene Milieus, deren gesellschaftliche Stellung durch die Umbrüche der letzten Jahrzehnte geschwächt worden sei – der Rechtspopulismus sei eine Auflehnung der letzteren gegen die Hegemonie der ersteren. Im Laufe des Buchs steigert sich die Autorin immer wieder in Polemiken gegen die liberal-kosmopolitischen Milieus hinein – unter anderem wirft sie diesen vor, dass sie ihre privilegierte Position durch ein präzedenzloses Maß des Nach-unten-Tretens sicherten und dabei alle Meinungen außer ihrer eigenen in der Öffentlichkeit als reaktionär brandmarkten.
Die Erfolgsgeschichte des Buches endete im November, als der bayrische Buchpreis verliehen wurde, für den Koppetsch nominiert war. In einer überraschenden Wendung artete die Buchpreisverleihung zu einer öffentlichen Demontage der Autorin aus, bei der ausgedehnte Plagiate im Buch bemängelt wurden. Der spektakulär geäußerte Verdacht erhärtete sich in den folgenden Wochen, als zahlreiche weitere Plagiate gefunden wurden, die weit mehr waren als bloße „handwerkliche Mängel“.
Rukaj bedauert, dass diese Plagiatsaffäre dazu führte, dass die inhaltliche Diskussion um Koppetschs Buch zum Erliegen kam, bevor sie wirklich beginnen konnte. Darin ist ihr zuzustimmen: Gerade weil Koppetsch mit ihren Thesen alles andere als allein dasteht, ist es wichtig, sie weiter zu diskutieren.
Absurd ist jedoch, dass Rukaj das bisschen Diskussion, das es schon gab, direkt zu einem Beispiel für „an den Universitäten virulente Cancel Culture“ und „gesinnungspolitische Diskursunfähigkeit“ umdeutet, was Koppetschs Thesen über die ebenso selbstgerechten wie kritikunfähigen akademischen Milieus bestätige. Dabei kann sie wohlgemerkt keinen einzigen Fall benennen, in dem irgendjemand die Absage einer Veranstaltung mit Koppetsch oder ihren Ausschluss aus dem Diskurs auch nur andeutungsweise gefordert hätte – und mir ist auch kein solcher Fall bekannt. Als Beleg für die schlimmen Zustände an deutschen Universitäten müssen vielmehr drei in konkret und Jungle World veröffentlichte Texte von Tom Uhlig herhalten – einem Autoren wohlgemerkt, der nicht an einer Universität angestellt ist. Uhlig benennt inhaltliche und methodische Mängel von Koppetschs Buch, spitzt seine Kritik aber auch politisch-polemisch zu – was nicht verwundert, wenn ein seinerseits politisch zugespitzter Essay in linken Medien diskutiert wird.
Wenn eine Universitätsprofessorin ein polemisches Buch voller Plagiate veröffentlicht, dafür in fast allen großen Medien in den Himmel gelobt, aber vereinzelt auch angegriffen wird, mag dies exemplarisch für vieles stehen. Aber es steht mit Sicherheit weder dafür, dass an den Universitäten eine Kultur des Absagens virulent wäre, die die Freiheit anderer Meinungen gefährden könnte, noch ist es geeignet Koppetschs Thesen über eine vermeintliche kosmopolitische Hegemonie zu bestätigen.
Politische Veranstaltungen in universitären Räumen: Keine leichte Frage
Durch diese ideologischen Diskurse wird auch unsichtbar, dass man ganz ernsthaft und grundsätzlich darüber sprechen könnte, welche Arten von Veranstaltungen in Universitätsräumen stattfinden sollen und welche nicht – diese Frage ist weder neu noch leicht. Universitäten sind mit öffentlichen Geldern finanzierte Bildungseinrichtungen. Veranstaltungen, die dort stattfinden, sind somit faktisch subventioniert und profitieren zudem von der Aura der Seriosität, die Universitäten für manche verströmen. Daher ist es wenig verwunderlich, dass seit Jahrzehnten darüber gestritten wird, wer an Universitäten was veranstalten darf. Oft ging es darum, ob studentische Gruppen „allgemeinpolitische“ Veranstaltungen durchführen können, also politische Veranstaltungen, die nicht dezidiert hochschulpolitisch sind. Dies zielte insbesondere auf linke Asten, die ihre Position nutzten, um gesellschaftskritisch Stellung zu beziehen – oder, wie man auch sagen könnte: die von ihrer Meinungsfreiheit Gebrauch machten. Entsprechend wurde die Kritik an „Allgemeinpolitik“ insbesondere von konservativen und liberalen Gruppen innerhalb und außerhalb der Hochschulen vertreten.
In der Praxis bedeutet das an vielen Hochschulen heute, dass von Studierenden organisierte politische Veranstaltungen nur dann möglich sind, wenn sie entweder dezidiert hochschulbezogen sind oder als politische Bildungsveranstaltungen gelabelt werden. Wo aber genau die Grenze zwischen Hochschulpolitik und Allgemeinpolitik oder zwischen politischer Bildung und politischer Agitation verläuft, ist interpretationsbedürftig. Dagegen werden fast alle Veranstaltungen durchgewunken, wenn Lehrende die Verantwortung übernehmen und sagen, dass es sich um Wissenschaft oder eine sinnvolle Ergänzung der Lehre handele – denn dann greift die Freiheit von Forschung und Lehre.
Dabei ist Streit vorprogrammiert. In knapp 20 Jahren im Unibetrieb habe ich Streitigkeiten um diverse Arten von Veranstaltungen mitbekommen – teils an der eigenen Hochschule teils an anderen. Es ging um Veranstaltungen kurdischer Studierendengruppen, denen der Staatsschutz eine Verbindung zur PKK nachsagte; um Auftritte salafistischer Prediger, die von muslimischen Studierendengruppen eingeladen waren; um Vorträge eines Biologieprofessors, der Feminismus als „Krebsgeschwür“ bezeichnet hatte; um diverse Veranstaltungen mit Personen, die die israelfeindliche Boykottbewegung unterstützen; um Veranstaltungen, die allzu offensichtlich parteipolitisch waren; um Veranstaltungen von linken Asten, die liberalen und christdemokratischen Listen zu „allgemeinpolitisch“ schienen usw. usf. Sollte all dies an Universitäten einen Platz haben? Oder nichts davon? Und wieviel Zeit sollen chronisch überlastete universitäre Gremien damit verbringen, darüber im Einzelnen zu entscheiden?
Free Speech oder Heuchelei?
Man könnte in diesen Fragen eine konsequente Free-Speech-Position vertreten und fordern, dass an Universitäten jede Art von politischer Veranstaltung stattfinden soll, die Studierendengruppen oder Lehrende durchführen wollen. Einzig: Eine solche Position, die in den USA verbreitet ist, vertritt in Deutschland fast niemand. Vielmehr versuchen Konservative, die sich um die Gefährdung der Redefreiheit sorgen, solange es um die eigene geht, in anderen Fällen, Auftritte von Personen zu verhindern, die sie für linksextrem halten. Ähnlich beschweren sich diejengen, die Freiheit für „Islamkritik“ fordern, regelmäßig über die Raumvergabe an Befürworter eines Israelboykotts – und die Befürworter der letzteren Veranstaltungen, wollen nicht selten die ersteren verboten sehen. Auch in den aktuellen Debatten um den postkolonialen Theoretiker Achille Mbembe findet sich auf beiden Seiten „Cancel Culture“ – die einen wollen die Absetzung von Ruhrtriennale-Intendantin Stefanie Carp, weil sie ihn einlud, die anderen wollen den Rücktritt des Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung Felix Klein, der die Kritik formulierte.
Man kann freilich die Absage der einen Veranstaltungen und die Durchführung der anderen begründen – dann sollte man aber auch entsprechend argumentieren. Wer dagegen auf der einen Seite Grenzenlosigkeit, auf der anderen Seite aber Grenzen fordert, sollte nicht zu viel von „freier Meinungsäußerung“, „Meinungsdiktatur“ oder „Cancel Culture“ sprechen – oder muss sich Heuchelei vorwerfen lassen.
Kritik, Reflexion und Autorität
Wird Kritik oft in Formen geäußert, die selbstgerecht, denunziatorisch und autoritär sind? Ja, das wird sie. Wäre es besser, wenn etwa Studierende, die vermeinen, bei ihren Lehrenden Rassismus oder Antisemitismus ausgemacht zu haben, sich darauf konzentrierten, diesen Vorwurf gut zu begründen, anstatt gleich Autoritäten um Verbote anzurufen? Ja, das wäre es. Sollte Kritik eher in der Sache als ad personam formuliert werden? Ja, das sollte sie. Ist die Freiheit der Lehre, der Wissenschaft oder der Meinung an Universitäten in Gefahr, wenn es ab und zu anders läuft? Nein, das ist sie nicht. Entsprechend kann man von Lehrenden auch erwarten, dass sie es aushalten, wenn sie sich in ihrer sehr gut abgesicherten Position einmal polemischen Angriffen ausgesetzt sehen.