Die Politik wird zurückkommen – aber wie wird sie aussehen?

Eines steht fest: Die in den letzten drei Wochen in Deutschland fast zum Erliegen gekommene Politik im Sinne eines Streits um Macht und Interessen wird zurückkommen. Aber wie wird das aussehen, um was wird es gehen und wer wird für was streiten? Und woher sollen die einzelnen Akteur_innen überhaupt wissen, welche Politik in ihrem Interesse liegt? In diesem Blogbeitrag, auf den in den folgenden Tagen noch einige folgen werden, versuche ich mein Bestes, das abzusehen.

Politik ohne Politik: Die ersten drei Wochen Coronakrise in Deutschland

Es mutet paradox an: Einerseits wurden in den letzten Wochen politische Entscheidungen von enormer Reichweite getroffen, andererseits fand fast keine Politik statt. Einerseits beschlossen die Bundes- und Landesregierungen die wahrscheinlich umfassendsten Einschränkungen von Grundrechten in 70 Jahren Bundespolitik (und das auf einer in Teilen zweifelhaften Rechtsgrundlage). Andererseits gab es fast keinen Konflikt um, fast keine Opposition gegen diese Maßnahmen. Ein echtes Paradoxon ist es insofern nicht, als es um zwei verschiedene Dimensionen von Politik geht: Es gibt viel Policy, aber fast keine (sichtbaren, konfliktiven) Politics. Das ist politikwissenschaftlich nicht sehr überraschend – Katastrophen sind fast immer die Stunde der Exekutive und nicht die Zeit des demokratischen Streits. Aber das Ausmaß ist doch frappierend.

Das merke ich auch an mir selbst: Sonst wittere ich bei jeder Ausweitung der Kompetenzen von Sicherheitsbehörden und jeder Einschränkung von Grundrechten Schlimmes, jetzt begrüße ich den Großteil der bisherigen Maßnahmen mit Nachdruck. Wenn linke und liberale Warner ihre routinierten Protestnoten zum Besten geben und ernsthaft meinen, diese Maßnahmen seien „gefährlicher als der Virus selbst“ oder der „Beginn eines neuen Autoritarismus“ oder gar eine „Ermächtigung“, rolle ich genervt die Augen. Jedoch muss ich auch gar nicht mehr tun als die Augen zu rollen, denn diese Stimmen sind ohnehin so marginal, dass man ihnen nicht einmal widersprechen müsste.

Im politischen Betrieb gab es dem äußeren Eindruck nach keine relevanten Akteur_innen, die sich ernsthaft gegen die Politik der Bundesregierung gestemmt hätten. Ja, es gab die eine oder andere Reiberei darüber, ob diese oder jene Maßnahme nun einen Tag früher oder später einsetzen, eine Stufe schärfer oder milder ausfallen soll. Ja, etwa in Einzelfragen wie der Durchführung von Abiturprüfungen gab es auch mal gegensätzliche Ziele. Und ja, natürlich kann man vermuten, dass zumindest zweieinhalb der Hauptakteure zugleich Schaulaufen in Sachen Kanzleramt betreiben. In grundsätzlichen Fragen gab es in Deutschlands aber weder zwischen den Parteien noch zwischen den Ländern noch zwischen Bund und Ländern noch zwischen Ministerien ernsthafte politische Konflikte – und in diesem Sinne dann auch keine Politik. (In der europäschen Politik sieht es etwas anders aus, hier gibt es einen offenen Konflikt um gemeinsame Staatsanleihen, in dem sich vergangene Konflikte wiederholen.)

Drei Faktoren der Entpolitisierung

Die Gründe für die Abwesenheit von politischen Konflikten trotz extrem weitreichender politischer Entscheidungen liegen auf der Hand:

Erstens musste spätestens angesichts der Bilder aus Norditalien allen, die nicht künstlich auf ignorant schalten, klar werden, was zuvor dank einer Höchstleistung postkolonialer Ignoranz noch verdrängt werden konnte: Das, was in China und Iran passierte, kann auch in Europa passieren. SARS-CoV-2 ist nicht nur für Asiat_innen gefährlich. Dies ist heute sogar noch deutlicher, weil man erschreckend ähnliche Bilder auch aus Madrid, Strasbourg, und New York sehen kann. Die Bedrohung ist real, sie ist nah und sie ist nicht zu verleugnen, sodass faktische Notstanspolitik plausibel wird.

Zweitens konnte die Bundesregierung – ebenfalls unter dem Eindruck des internationalen Kontexts – in extrem kurzer Zeit extrem umfangreiche ökonomische Mittel mobilisieren und die meisten der unmittelbaren Verlierer_innen der Social-Distancing-Politik zumindest teilweise kompensieren. Dank der Kompensationsmaßnahmen dürften die meisten Unternehmen und Arbeitnehmer_innen ein bis zwei Monate Isolationspolitik irgendwie überstehen können. (Einige zuvor schon angeschlagene Unternehmen werden aufgeben müssen, andere dürften die Staatshilfen wohl auch einfach nur so gerne mitnehmen und somit überkompensiert werden – das ist eben der Preis des „Unbürokratischen“.) Diejenigen, die unkompensierte Verluste hinnehmen müssen, sind in erster Linie die ohnehin marginalisiertesten Gruppen – zum Beispiel Obdachlose oder Menschen, die keinen legalen Aufenthaltsstatus haben. Aber gerade diese Gruppen sind kaum in der Lage, irgendwelchen Maßnahmen politisch effektiv zu widersprechen. Wenn alle politisch einflussreichen Verlierer_innen einer Maßnahme zumindest in gewissem Maße kompensiert werden, wird der Protest gemindert und die Maßnahme entpolitisiert.

Drittens sind die aktuellen Social-Distancing-Maßnahmen ein unverzichtbarer Startpunkt für jede Strategie, die aktuell ernsthaft diskutiert wird. Grob lassen sich diese Strategien in zwei Gruppen einteilen: Auf der einen Seite gibt es Suppression– oder Containment-Strategien, die das Ziel verfolgen, den Ausbruch zu unterdrücken, sodass die Zahl der Neuinfektionen möglichst schnell möglichst nahe zu Null gebracht wird. Die realistischste dieser Strategien ist „The Hammer and the Dance“:  Dabei geht es darum, die Zahl der Neuinfektionen durch starke Social-Distancing-Maßnahmen sowie durch „Testing and Tracing“ (also das Aufspüren und Unterbrechen von Infektionsketten) im Laufe von ein bis drei Monaten möglichst stark zu senken (The Hammer), sodass man danach anfangen kann, das gesellschaftliche Leben langsam wieder „hochzufahren“. Die Lockerungen der Isolationsmaßnahmen müssten sukzessive erfolgen, unbedingt durch fortgesetztes Testing und Tracing begleitet sowie laufend nachjustiert werden, um eventuelle neue Ausbrüche zu kontrollieren (The Dance). Dieser Tanz müsste bis zur Verfügbarkeit eines Impfstoffs im nächsten Jahr andauern.  Auf der anderen Seite gibt es Mitigation-Strategien, die das Ziel verfolgen, die Folgen des Ausbruchs zu mindern, sodass die Kapazitäten des Gesundheitssystems nicht überlastet werden – das Konzept der meisten sattsam bekannten (und leider zumeist irreführenden) „Flatten the Curve“-Grafiken. Die aktuell am häufigsten befürwortete Strategie dieser Art soll darin bestehen, dass man die „Durchinfektion“ von 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung „kontrolliert“ ablaufen lässt und dabei Risikogruppen (Personen über 65 und/oder mit Vorerkrankungen) durch fortgesetzte Isolation „schützt“ (auf die Probleme dieses meines Erachtens größenwahnsinnigen und grob fahrlässigen Ansatzes gehe ich in einem der nächsten Beiträge ein). Die „Durchinfektion“ soll „Herdenimmunität“ bewirken, aufgrund derer es nach einigen Monaten nur noch zu wenigen Neuinfektionen kommt, sodass die Risikogruppen ihre Isolation dann wieder relativ ungefährdet verlassen können. Diese Strategie geht mit dem Versprechen einher, das gesellschaftliche Leben schon bald wieder „hochfahren“ zu können.  Die Bundesregierung hat es bislang vermieden, sich öffentlich zu einer dieser beiden oder sonst irgendeiner Strategie zu bekennen – vermutlich, um sich alle Wege offenzuhalten. Aber egal, welche Strategie es werden sollte, die aktuellen Maßnahmen sind der bestmögliche Start. Entscheidet man sich für „The Hammer and the Dance“, braucht man sie als Teil des Hammers sowie als Atempause, um Testing-and-Tracing-Kapazitäten auszubauen und den Tanz vorzubereiten. Entscheidet man sich für die „kontrollierte Durchinfektion“, braucht man sie, um Zeit zu gewinnen, in der man die Kapazitäten des Gesundheitssystems ausbaut, das Personal soweit wie möglich auf die anstehende Krankheitswelle vorbereitet und die Maßnahmen zum Schutz der Risikogruppen einleitet.

Alle drei Punkte – die Plausibilität des Ausnahmezustandes, das Ausmaß der Kompensation und die Alternativlosigkeit der Maßnahmen unabhängig von der mittelfristigen Strategie – haben politischen Streit fürs erste auf ein Minimum reduziert,

Aber die Politik wird zurückkommen. Und wenn die Politik zurückkommt, dann könnte sie es mit großer Heftigkeit tun, denn es steht sehr, sehr viel auf dem Spiel.

Die Stakes bei der Rückkehr der Politik sind hoch: Es geht nicht um Menschenleben gegen Profite, es geht in jedem Fall um Menschenleben und Profite und vieles mehr

Aber was steht auf dem Spiel? Gerade in linken Kreisen besteht die Tendenz, den anstehenden Konflikt so zu framen, als stehe dabei der Schutz von Menschenleben gegen den Schutz von Profiten. Dieses Framing mag auf den ersten Blick plausibel scheinen: Tatsächlich kommen die lautesten Rufe nach einem baldigen Ende der Isolationsmaßnahmen bzw. nach einer „Exit-Strategie“ aus sehr wirtschaftsnahen Mündern – zum Beispiel aus denen von Lindner, Linnemann und Laschet. Tatsächlich wird bei den entsprechenden Forderungen immer wieder explizit darauf verwiesen, dass „die Wirtschaft“ den Stillstand nicht mehr lange aushalte. Und ja: Es geht um viele, viele Milliarden Euro und um die Existenz bzw. Profitabilität vieler, vieler Unternehmen. Nichts von beidem würde jemals ohne Gegenwehr aufgegeben.

Dennoch ist das Framing sehr stark verkürzt und übersieht: Nicht nur das neuartige Coronavirus, sondern auch eine ausgedehnte Rezession (ein länger andauerndes Zurückgehen der wirtschaftlichen Aktivität) oder gar Depression (ein Verharren der wirtschaftlichen Aktivität auf niedrigerem Niveau) kann sehr, sehr viele Menschenleben kosten. Dies lehrt die Erfahrung mit vergangenen Rezessionen und es gibt keinen Grund für die Zukunft etwas anderes zu erwarten. Selbst wenn man nur auf Deutschland blickt, wären kurz-, mittel- und langfristig Menschenleben gefährdet. Plastisch und verkürzt: Die Lebenserwartung der untersten Einkommensgruppen in Deutschland ist etwa fünf Jahre kürzer als die der obersten Einkommensgruppen. Eine ausgedehnte Rzession würde wohl dazu führen, dass die meisten Menschen auf ein niedrigeres Einkommensniveau fallen und auch die Lebenserwartung vieler Menschen sich verkürzt. Und Deutschland ist immerhin noch ein Land mit einem einigermaßen robusten Wohlfahrtsstaat, der auch Hartz-IV-Empfänger_innen zumindest ein finanzielles Minimum zur Verfügung stellt. Andere Länder können sich eine solche Grundsicherung nicht leisten oder sie tun es einfach nicht. Entsprechend werden die viel drastischeren menschlichen Folgen einer ausgedehnten Rezession oder Depression eher in anderen Ländern und in erster Linie weiter unten in den Produktions- und Care-Ketten stattfinden: Wenn beispielsweise weniger deutsche Haushalte sich Reinigungs- und Pflegekräfte aus Osteuropa leisten können, fehlt dort das entsprechende Einkommen, ohne dass dieser Ausfall durch vergleichbare wohlfahrtsstaatliche Leistungen aufgefangen würde. Diejenigen, denen dieses Einkommen fehlt, können sich dann vielleicht lebenswichtige medizinische Versorgungsleistungen für ihre Angehörigen oder einfach angemessene Nahrung nicht mehr leisten usw. usf. Und auch dies beschreibt nur die indirekten Auswirkungen eines wirtschaftlichen Einbruchs in Deutschland. Die Coronakrise trifft aber aktuell die allermeisten Länder der Welt auch direkt, sodass es sich um eine globale Rezession handeln wird, in der in den weniger reichen Ländern nicht nur die Nachfrage aus den reicheren einbricht, sondern auch die Binnenwirtschaft – und all dies, während eine Epidemie grassiert.

Aber auch andersherum gilt: Wenn es zu einer Überlastung des Gesundheitssystems käme, würde das nicht einfach nur „Menschenleben“ kosten. Wenn mit den fünf-, sechs- und siebenstelligen Zahlen der zu erwartenden Todesfälle in Deutschland operiert wird, klingt dies teils so, als verschwänden diese Menschen einfach. Aber das tun sie nicht. Wer an Covid-19 stirbt, stirbt in der Regel an Lungenversagen und Erstickung. Und je mehr Menschen zugleich daran sterben, desto weniger kann man für sie tun. Dann ersticken diese Menschen vor und in überfüllten Krankenhäusern, wo man denen, für die man keine Beatmungsgeräte mehr hat, im besten Falle noch Opiate gibt, um das Leiden während des Sterbens zu mindern. Weil es sich um eine Infektionskrankheit handelt, die Krankenhäuser überlastet sind und Schutzkleidung fehlt, kann man die Angehörigen nicht einfach zu den Sterbenden lassen. Man stirbt allein und niemand kann Abschied nehmen. Eine Überlastung des Gesundheitssystems würde zu einer Traumatisierung nicht nur des Krankenhauspersonals, sondern auch weiterer Teile der Bevölkerung führen. Zudem führt eine Überlastung des Gesundheitssystems auch dazu, dass andere Krankheiten nicht behandelt werden, was wiederum langfristige Gesundheitsschäden und Todesfälle bedeutet. Und die währenddessen laufende „Durchinfektion“ der Bevölkerung bedeutet zudem noch, dass viele Menschen wochenlang krank zu Hause oder im Krankenhaus sind. Es ist kaum im Bereich des Vorstellbaren, dass in einer solchen Zeit die Wirtschaft einfach ganz normal laufen könnte. Dies gilt umso mehr, weil der internationale Kontext höchst instabil ist. Selbst wenn die deutschen Firmen das Personal hätten, um normal zu operieren, fallen so oder so große Teile der Lieferketten und ihrer Märkte aus, was gerade für die exportabhängige deutsche Wirtschaft ein großes Problem darstellt.

Kurzum: „wirtschaftlicher Schaden“ heißt auch „Verlust von Menschenleben“ und „Verlust von Menschenleben“ heißt auch „wirtschaftlicher Schaden“. Deshalb geht es nicht darum das eine gegen das andere abzuwägen, es geht immer um beides und noch viel mehr.

Die verschiedenen Strategien sind kein Trade-Off!

Die letzten Absätze haben es schon angedeutete, aber es sollte noch einmal betont werden

Zwischen den beiden genannntenStrategien gibt es keinen einfachen Trade-Off!

Ein Trade-Off läge vor, wenn die beiden Optionen jeweils unterschiedliche Kosten produzierten, sodass man zwischen mehr unmittelbar durch die Krankheit verursachtem Schaden auf der einen Seite und mehr durch einen wirtschaftlichen Einbruch verursachten Schaden auf der anderen Seite abwägen müsste und gegebenenfalls einen Mittelweg wählen könnte.

Jedoch liegt ein solcher Trade-Off hier hier nicht vor, und zwar aus drei Gründen:

Erstens ist gar nicht gesagt, dass „The Hammer and the Dance“ mehr wirtschaftlichen Schaden anrichten würde als eine „kontrollierte Durchinfektion“. Wenn Testing und Tracing gut funktionieren und die Gesamtinfektionszahl durch „The Hammer“ stark gedrückt wird, könnte „The Dance“ ja durchaus heißen, dass bis zur Verfügbarkeit eines Impfstoffes zwar keine Massenveranstaltungen stattfinden, internationale Flugreisen eingeschränkt bleiben und im Alltag alle einen Mundschutz tragen müssen, das wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben sonst aber relativ normal weitergeht. „Kontrollierte Durchinfektion bei Schutz der Risikogruppen“ kann dagegen heißen, dass große Teile der Gesellschaft traumatisiert sind, die Gesundheitsversorgung zusammenbrichtm, Menschen an anderen heilbaren Krankheiten sterben, die im überlasteten Gesundheitssystem nicht mehr adäquat behandelt werden können und so weiter – und all dies hätte auch wirtschaftliche Folgen, die wiederum weitere menschliche Folgen hätten usw.

Zweitens liegt ein Trade-Off ganz sicher nicht in der Form vor, das man beliebig etwas mehr von der einen und etwas weniger von der an anderen Maßnahme wählen und einen Mittelweg ansteuern könnte. Auch wenn die aktuellen Maßnahmen für beide Wege den besten Start bedeuten, bewegen sie sich danach in entgegengesetzte Richtungen – und wenn die „Durchinfektion“ ein gewisses Maß erreicht hat, wird es schwer bis unmöglich, jemals wieder zum „Dance“ zu  kommen. Was jedoch sehr wohl möglich ist, ist einzelne Maßnahmen, die für eine Strategie zentral sind, in die andere zu inkorporieren: Auch wenn man es mit „The Hammer and the Dance“ versucht, ist es sehr sinnvoll, den Risikogruppen besonderen Schutz zukommen zu lassen, indem etwa die Besuchs- und Hygienevorschriften in Pflegeheimen verschärft werden oder entsprechend vorerkrankte Personen von Präsenzpflichten an der Arbeitsstelle befreit werden. Wenn man sich dagegen für eine „kontrollierte Durchinfektion“ entscheidet, wäre Testing and Tracing mithin wichtig, um zu sehen, wer ohne Gefahr Kontakt zu Risikogruppen haben kann (diejenigen, die eine Infektion hinter sich haben und deshalb immun sind) und wer diesen Kontakt auf keinen Fall haben darf (diejenigen, die aktuell infiziert und ansteckend sind).

Drittens ist insofern nur sehr eingeschränkt von einem Trade-Off zu sprechen, als es viel zu viele Unbekannte gibt, um die Berechnungen für ein Trade-Off ernsthaft anstellen zu können. Die Menge an Wissen, die innerhalb von drei Monaten über den Virus und die von ihm verursachte Krankheit angesammelt wurde, ist beeindruckend. Dennoch ist bei weitem noch nicht klar, wie hoch welches Risiko für welche Gruppe unter welchen Umständen ist – und die Einschätzungen gehen teilweise um den Faktor 100 auseinander. Analoges gilt für die politisch-ökonomischen Folgen verschiedener Maßnahmen.

Welche politischen Konflikte sind zu erwarten?

All das bedeutet, dass die Stakes in die eine wie in die andere Richtung enorm hoch sind. Für sehr viele Menschen geht es potenziell ums Überleben oder um das Überleben ihrer Angehörigen. Für noch viel mehr Menschen geht es unmittelbar um ihre wirtschaftliche Existenz als Unternehmer_innen, als Arbeitnehmer_innen oder als Aktionär_innen. Von der Besteuerung all dieser Einkünften hängt die finanzielle Ausstattung  des Staates und der Sozialversicherungssysteme zu erheblichen Teilen ab und von dieser wiederum Einkünfte von öffentlich Bediensteten, Rentner_innen und den Empfänger_innen wohlfahrtsstaatlicher Leistungen.

Entsprechend ist damit zu rechnen, dass die verschiedenen Akteur_innen hart darum kämpfen, dass ihre Interessen berücksichtigt werden. Allerdings wird dieser Kampf unter Bedingungen großer Unsicherheit geführt werden. Am Ende steht eine politische Entscheidung zwischen zwei alternativen Strategien an, es ist aber sehr unklar, welche dieser Strategien am Ende welche Auswirkungen auf wessen Interessen haben. Weil die Zahl der unbekannten zu groß ist, lassen auch die besten verfügbaren wissenschaftlichen Modelle kaum erahnen, welche Maßnahmen für wen welche Konsequenzen haben. Dies gilt sowohl für die unmittelbar gesundheitlichen als auch für die politisch-ökonomischen Folgen.

Entsprechend dürfte sich die Positionierung für eine bestimmte Strategie nicht sehr leicht aus den „objektiven Interessen“ ableiten lassen. Daher ist es durchaus möglich, dass die individuellen Akteur_innen ihree Entscheidung für die eine oder andere Strategie nicht unmittelbar interessengeleitet, sondern eher intuitiv, moralisch oder durch Herdentrieb geleitet treffen. Ebenso ist denkbar, dass die Unsicherheit dazu führt, dass man sich am Ende doch wieder hinter die Exekutive schart, die ihre Entscheidung als die objektiv richtige und alternativlose präsentiert.

Nichtsdestoweniger sind die ersten politischen Positionierungen bereits zu beobachten: Insbesondere aus wirtschaftsnahen Kreisen scheint sich eine Präferenz in Richtung „kontrollierte Durchinfektion bei gleichzeitiger Schutz-Isolation von Risikogruppen“ herauszubilden. Dagegen wird diskursiv mit dem (nicht ganz treffenden) Framing mobilisiert, dass man keine Menschenleben für wirtschaftliches Wachstum opfern sollte. Allerdings ist weder klar, dass „die Wirtschaft“ sich wirklich für die genannte Option entscheidet, noch ist abzusehen, welche gesellschaftlichen Kräfte eine Gegenposition am Ende tragen werden. Ob etwa die Gewerkschaften überhaupt eine einheitliche Position entwickeln werden, ist unklar – die Interessen von öffentlich Bediensteten können sich von denen der Beschäftigten in der Metallindustrie durchaus unterscheiden, wenn es denn eindeutige Interessen geben sollte.

Die Bundesregierung mauert bislang und will die öffentliche Diskussion über eine Entscheidungsfindung auf die Zeit nach Ostern aufschieben – vermutlich um die Initiative zu behalten, alle Optionen offenzulassen und die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, weiter ohne Opposition regieren zu können.