Falsche und richtige Hoffnungen in der Pandemie. Einige letzte laienepidemiologische Reflexionen vor dem Social Media Distancing

Liebe alle,

danke Euch für die letzten Tage, in denen wir alle unser Halbwissen über Epidemiologie ausgetauscht. Das hat mir irgendwie sehr geholfen. Und ich glaube, dieser Austausch auch wichtig, weil er uns allen dabei hilft, die Situation zu verstehen, in die wir geraten sind. Die Reflexionen helfen ein bisschen zu sehen, welches Verhalten angemessen ist – und sie helfen, ein gewisses Gefühl von Kontrolle zu gewinnen.

Aber das ständige Kreisen um das Thema macht mich auch fertig, raubt mir den Schlaf und die Fähigkeit, mich auf irgendetwas anderes zu konzentrieren. Zudem glaube ich, dass die wichtigsten Gedanken jetzt ausgetauscht sind, man sich zunehmend im Kreis dreht, hineinsteigert und zusätzlichem Stress aussetzt. Schließlich habe ich auch das unangenehme Gefühl, etwas zu viel Aufmerksamkeit für etwas zu wenig Kompetenz zu erhalten. Aus all diesen Gründen reduziere ich jetzt erst einmal für eine Weile meine Präsenz in den sozialen Medien (vll. auf ein halbe Stunde lurken morgens und abends, mal schauen).

Jedoch habe ich doch den Drang, vorher noch einige letzte laienepidemiologischen Reflexionen und Hoffnungen zu teilen.

Der[1] Westen hat sich geweigert, von Asien zu lernen. Diese mangelnde Lernbereitschaft dürfte teilweise darauf zurückzuführen sein, dass China, Südkorea und andere Länder Erfahrungen SARS und MERS hatten, weshalb sie das Problem direkt sehr, sehr ernst nahmen. Die westlichen Länder hatten diese Erfahrungen nicht und unterschätzten das Problem. Jedoch waren auch westliche Ignoranz und Arroganz am Werk: „Die Chinesen übertreiben bestimmt und unsere Gesundheitssysteme sind so toll, dass sie das ohnehin aushalten, die halten ja auch jedes Jahr die Grippewelle aus.“ Nein, nein und nein. Die Chines_innen haben nicht übertrieben (vll. in einigen Maßnahmen, aber nicht in der Bewertung der Problemlage). Nein unsere Systeme sind nicht so toll (in einigen Ländern noch weniger als in anderen). Nein, das ist nicht wie eine Grippe, es ist viel schlimmer. Jetzt haben wir die Pandemie, unter der dann nicht nur die Menschen im Westen sondern in der Folge auch die in allen anderen Ländern massiv leiden werden. Damit müssen wir jetzt umgehen.

Die Maßnahmen, die die deutsche Politik (und nicht nur die) in den letzten Tagen getroffen hat, scheinen mir richtig und wichtig, wenn sie vielleicht auch etwas langsamer kamen, als sie hätten kommen sollten. Jedoch muss ich ehrlich sagen, dass es mir im persönlichen Leben ähnlich geht: In einem Moment denke ich ernsthaft darüber nach, ob ich die Unternehmung X noch durchführen soll, einen halben Tag später scheint mir schon der Gedanke absurd. Auch wenn dieses Herunterfahren des öffentlichen Lebens gerade, Entschuldigung, alternativlos ist, habe ich den Eindruck, dass immer noch falsche Hoffnungen zirkulieren, zum Beispiel diese fünf (und danach sage ich, worauf man doch hoffen darf, denn ich bin guter Hoffnung).

Fünf Hoffnungen, die man sich nicht machen sollte

  1. Ich habe immer noch den Eindruck, dass viele denken, wir machen jetzt mal einen Monat Pause und dann normal weiter. Nein. Wenn wir nach einem Monat Pause normal weitermachen, werden die Infektionszahlen sofort wieder exponentiell anwachsen und zwei Wochen später wären wir ungefähr da, wo wir heute sind.
  2. Das relativ unkontrollierte „Durchlaufenlassen“ der Infektionswelle bis zur Herstellung einer Herdenimmunität wäre Massenmord. 60-70% der Bevölkerung müssten infiziert werden und das bei einer Letalität von 0,5-4%. Das hieße, dass in Deutschland viele Hunderttausende, wenn nicht Millionen, in Europa viele Millionen sterben. Die Sterbenden würden nicht einfach verschwinden, sie würden in überfüllten Kliniken ersticken. Höchstwahrscheinlich würden sie dies zumindest anfangs in Quarantäne tun, also faktisch alleine, ohne dass die Angehörigen ihnen beistehen oder sich verabschieden können – dafür gibt es einfach nicht genug Schutzkleidung. Das medizinische Personal im Besonderen und die Gesellschaft im Allgemeinen wären lebenslang traumatisiert. Das alles darf niemals passieren.
  3. Wenn man unter „Flatten the Curve“ versteht, dass man die Infektionswelle ebenfalls durch die Bevölkerung laufen lässt, bis Herdenimmunität hergestellt ist, dies aber so stark verlangsamt tut, dass das Gesundheitssystem nicht überlastet wird, ist es eine Illusion. Das würde Jahre brauchen – Jahre, in denen das öffentliche Leben eingeschränkt wäre. Egal, wie oft und wie optimistisch man kalkuliert: Die Zahlen passen einfach nicht. Die Zahlen passen einfach nicht. Die Zahlen passen einfach nicht.
  4. Wenn man unter „Containment“ versteht, das Virus wirklich kontrolliert einzugrenzen, bis es nicht mehr zirkuliert, ist das nach dem Erreichen des Pandemiestatus ebenfalls eine Illusion. Bis eine Impfung verfügbar und massenhaft ausgebracht ist oder ein Wunder geschieht, wird das Virus auf absehbare Zeit in einigen Regionen in großem Maß und in fast jedem Land in einigen kleineren Taschen überleben und immer wieder zurückkommen. Selbst wenn man das Virus durch einen achtwöchigen Totalshutdown nach dem Modell Wubei oder Italien aus Deutschland verbannen würde, käme es deshalb auf die einer oder andere Weise zurück und würde sich sofort wieder exponentiell verbreiten, sodass man wieder in den Shutdown müsste usw.
  5. Einfach auf eine Impfung warten kann man auch nicht. Anders als lebensrettende Medikamente müssen Impfungen in jedem Fall ausführlich getestet werden, bevor sie etwas bewirken. Ein lebensrettendes Medikament gibt man einer schwerkranken Person, die ohne Medikation in Lebensgefahr schwebt. Da ist es in Extremfällen rechtfertigbar, unbekannte Nebenwirkungen zu riskieren, um die Überlebenswahrscheinlichkeit zu erhöhen. Damit eine Impfung gegen eine Pandemie wirkt, muss man sie dagegen vielen Millionen (in Deutschland) und Milliarden (weltweit) verabreichen. Diese zu impfenden Menschen sind zum einen die Gesunden, zum anderen sind es die, die schwach und krank sind, nur eben nicht durch dieses Virus. Daher lässt sich das Verabreichen einer nicht ausführlich getesteten Impfung selbst in einer solchen Ausnahmesituation kaum rechtfertigen. Nach dem Test muss sie noch massenhaft produziert werden – selbst wenn man auf Lizenzen und Patente pfeift und das alle Pharmafirmen zugleich tun lässt, dauert das. Deshalb ist mit einer hinreichend verfügbaren Impfung auch erst 2021 zu rechnen – sogar wenn sie nächste Woche schon entwickelt wäre.

Was das heißt, worauf man hoffen darf

Richtig an „Flatten the Curve“ ist, dass man die Infektionsraten so stark eingrenzen muss, dass das Gesundheitssystem nicht überfordert wird. Das hat höchste Priorität. Allerdings sollte man nicht glauben, dass sich auf diese Weise die Bevölkerung bis zur „Herdenimmunität“ durchinfizieren lässt. Noch einmal: Die Zahlen passen einfach nicht. Das heißt: Man muss die Ansteckungsraten niedrig halten, um ein Massensterben zu vermeiden, man muss sich aber zugleich darauf einstellen, dass man die ergriffenen Maßnahmen sehr lange durchhalten muss. Das heißt, man sollte nur die Einschränkungen des öffentlichen Lebens einrechnen, die man auch länger durchhalten kann. Dabei ist zu bedenken, dass der Shutdown in Wubei auch deshalb möglich war, weil das eine Provinz eines riesigen Landes ist, sodass dort nur ca. fünf Prozent der chinesischen Bevölkerung leben, die von außen versorgt werden können. Diese Möglichkeit besteht in Deutschland heute nicht. Das Land ist in der ganzen Fläche betroffen, alle Nachbarländer sind in ähnlichen, viele in schlimmeren Situationen. Mindestens die Landwirtschaft, die Lebensmittelindustrie, die Chemiehindustrie, die entsprechenden Teile des Transportwesens, die Infrastrukturbetriebe, Gesundheitswesen, Feuerwehr und Polizei müssen ständig aufrechterhalten werden. In anderen Bereichen kann man zwar zeitweise Einschränkungen vornehmen, die man anschließend lockert. Aber auch hier kann man den Alltag nicht einfach für ein Jahr einfrieren. Das wäre weder wirtschaftlich noch psychisch durchzuhalten – und deshalb wohl auch nicht politisch.

Was Anlass zu mehr Hoffnung gibt

Die aktuellen Maßnahmen sind richtig und wichtig, danach gilt es, von Südkorea zu lernen. Das heißt: testen, testen, testen. Es heißt auch, an öffentlichen Orten Fieber messen. Wer erhöhte Temperatur hat, muss zu Hause bleiben und versorgt werden, bis negative Tests vorliegen. (Und wer dann nur eine Grippe hat, sollte trotzdem zu Hause bleiben.) Diese Systeme können nach und nach besser werden, wenn massenhaft Schnelltests vorliegen, deren Ergebnisse man nicht erst nach Tagen, sondern schon nach Stunden oder Minuten kennt. Zudem könnten bald antivirale Medikamente verfügbar werden, die auch schwere Verläufe besser behandelbar machen, sodass sich die Sterberaten vermindern und die Kapazität des Gesundheitswesens erhöhen lassen.

Das würde es erlauben, das öffentliche Leben nach und nach wieder zu beleben.

Welche Folgen das alles haben wird – gesellschaftlich, psychologisch, kulturell, physiologisch, politisch und ökonomisch – ist kaum abzusehen. Mag sein, dass wir in einen Krisensozialismus mit Grundeinkommen und verstaatlichten Unternehmen rutschen, wie man danach das Leben wieder in Gang bringt, ist völlig unklar.

Aber wenn man sich nicht arrogant und ignorant weigert, von Asien – und insbesondere von Südkorea – zu lernen, dann würde ich sagen: Wir schaffen das.

Bleibt gesund!

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Ergänzung einen Tag später:

Wer Gründe zur Hoffnung will, soll sich Texte über Südkorea durchlesen. Dort sind die Zahlen der täglich bestätigten Neuinfektionen mittlerweile wieder im zweistelligen Bereich, Menschen fangen wieder an in Restaurants und Cafés zu gehen – und dies weniger als einen Monat nach dem großen Ausbruch, ohne dass es einen Lockdown wie in Italien oder gar China gegeben hätte.

Die Entwicklung der Pandemie in Südkorea (Quelle: Wikipedia)

Lesen kann man zum Beispiel den englischen Wiki-Artikel oder Berichte aus BBC, Washington Post, taz und Spiegel.

Bis wir zu wirklicher Normalität zurückkehren, wird es sehr viel länger dauern. Aber wenn alles sehr, sehr gut läuft könnten wir schon im Mai wieder in Cafés sitzen und im Juni ins Freibad gehen.

[1] Die Überlegungen in diesem Absatz habe ich größtenteils von Elisa Aseva zu verdanken.