Das große Jammern. Eine Sammlung konservativ-nostalgischer Tränen, die über den Verfall des Guten in der Gesellschaft vergossen wurden

Ein neues Projekt: In diesem regelmäßig aktualisierten Beitrag sammle ich ab heute Feuilletonbeiträge, in denen der Verlust des Guten in der Welt durch linken und liberalen Aktivismus beklagt wird – sei es, dass die Linke wegen ihrer Identitätspolitik schuld an Trump ist, sei es, dass Gender unsere Sprache verlottern lässt, sei es, dass die Postmoderne die Rationalität kaputtmacht, sei es, dass der arme Westen zu Unrecht immer für seinen (Neo-)Kolonialismus gegeißelt wird, sei es, dass naive Forderungen nach Klimaschutz und Sozialismus die Lehren des Totalitarismus ignorieren, oder sei es, dass übertriebene Forderungen nach sozialen Wohltaten Standort und Fortschritt gefährden.

Als konservativ bezeichne ich dieses Jammern aufgrund der nostalgischen Geste, die einen bereits erfolgten oder gerade erfolgenden Verfall beklagt; als Gejammer bezeichne ich diese Nostalgie, weil sie immer wieder mit dem Vorwurf der Larmoyanz einhergeht.

Dabei geht es mir nicht darum, ein ausgeglichenes Bild der Feuilletondebatten zu zeichnen – selbstredend gibt es immer Gegenstimmen und Zwischentöne. Es geht lediglich darum, zu zeigen, wie laut und hochfrequent das konservative Klagen ist.

Das Prozess ist durch und durch idiosynkratisch. Die (voraussichtlich einzige, mindestens hauptsächliche) Datenbasis bildet die Perlentaucher-Debattenrundschau 9Punkt. Die dort erfolgte Vorauswahl ist selbst schon durch Willkür gekennzeichnet (wie sollte es auch anders sein) und ich greife aus ihr wiederum willkürlich Beiträge heraus. Gesammelt werden jeweils die dort formulierten Zusammenfassungen im Wortlaut, ggf. mit kurzem Kommentar. Das Projekt läuft genau so lange und so intensiv, wie ich Lust und Zeit habe.

Kalenderwoche 19/2019

Die Artikel zur Frankfurter Konferenz über das islamische Kopftuch lasse ich hier weg. Schließlich handelt es sich dabei keinesfalls um Gejammere, sondern um Triumphgeheul darüber, dass Susanne Schröter, die Universitätsleitung und die deutsche Öffentlichkeit den massiven Protesten (ca. 20 Personen) zum Trotz standhaft blieben und die Konferenz durchgeführt wurde. Herzlichen Glückwunsch zu diesem erfolgreichen Akt des Widerstands!

11 Mai

Wo kommern wir denn hin, wenn die Grenze zwischen „Arbeitenden und Parasiten“ verwischt wird? Diese Unterscheidung ist wichtig für Europa!

In der Welt verteufelt Bazon Brock die allseits grassierende Heuchelei, die fahrlässige E-Mobilität, oder Linke, die ein fettes Erbe einstreichen. Am schlimmsten findet er aber die Verfechter einer grenzenlosen Gesellschaft: „Entgrenzen heißt also, Bedeutungen und Sinnzusammenhänge ununterscheidbar, unkenntlich zu machen. Das ist die Absicht der fanatischen Entgrenzungsforderer im globalen Maßstab, damit endlich nicht mehr Täter und Opfer, Reiche und Arme, Arbeitende und Parasiten, Linke und Rechte, Fortschritt und Rückschritt unterschieden werden können… In solche latente Selbstzerstörung durch Willkür und das Recht aufs Dummsein treiben uns nicht räuberische Migranten oder Dunkelmänner; es ist unsere Allmachtsarroganz und Selbsterhöhung vor Versagergesellschaften. Es gilt: der Hochmut kommt vor dem Fall. Wir fallen bereits: Europa fällt.“

6 Mai

Schlimmer Verdacht! Möglicherweise haben Minderheiten, die um politische Repräsentation kämpfen, ihre eigenen Interessen im Sinn! Und das in einer liberalen Demokratie!

Der Paritätsbeschluss fürs Brandenburger Parlament stößt in der FAZ auf das Misstrauen der Migrationsforscherin Sandra Kostner, die sich auf der Gegenwartsseite im vorderen Teil der Zeitung gegen linke Identitätspolitik wendet: „Bevor weitreichende und nur schwer revidierbare Entscheidungen getroffen werden, wäre es klug, sich mit den Motiven derjenigen Gruppen auseinanderzusetzen, die es als moralisch zwingendes Gebot der Stunde darstellen, dass sie ihrem statistischen Anteil in der Bevölkerung entsprechend in Parlamenten, Institutionen und Unternehmen repräsentiert sind. Ein Motiv liegt auf der Hand: Eigeninteresse.“

Ein feuilletonistischer Hauptkritikpunkt am Sozialismus: Er ist eine alte Idee! Aus dem Antiquariat! Ganz anders als der Liberalismus, der bekanntlich erst in den 1990ern erfunden wurde – wahrscheinlich von Francis Fukuyama oder Alain Finkielkraut oder so. (Der Verweis darauf, dass Kühnerts Ideen irgendwie alt sind, findet sich in fast allen Perlentaucher-„Anmoderationen“ zum Thema, hier nur eine.)

Die heutige FAZ widmet der Angelegenheit gar einen Leitartikel auf Seite 1 der Zeitung. Jürgen Kaube fühlt sich durch Kühnerts „Ausflug ins Antiquariat“ an den CSU-Generalsekretär Alexander Dobrindt erinnert, der vor kurzem mit der Forderung nach einer „konservativen Revolution“ einen ähnlichen, inzwischen aber längst vergessenen Streit auslöste: „Dobrindts Konservatismus ist Kühnerts Sozialismus: eine Phrase ohne jede analytische Grundlage.“

Kalenderwoche 18/2019

2. Mai

Immer wenn man denkt, so langsam hätten alle Feuilletonist_innen des Landes bereits einen entsprechenden Text abgeliefert, kommt ein Spätberufener angehechelt, um auch noch dabeizusein. Nun, da der Kühlschrank schon leergetrunken ist und sich am Buffet nur noch drei Scheiben Baguette finden, hat es auch Jens Jessen zur Party geschafft.

Selten wurden politische Meinungen so hysterisch in linke und rechte Lager eingeordnet wie heute, diagnostiziert Jens Jessen im Aufmacher des Zeit-Feuilletons. Der „herrische Ausschluss“ von Positionen der Mitte erinnert dabei an Propaganda in Kriegszeiten und führt zu „dogmatischer Erstarrung“, so Jessen weiter, der vor allem in der Abkehr vom Universalismus eine Nähe beider Lager erkennt. Denn auch die Linke begann, „Ungleiches ungleich behandeln zu wollen, wenn auch mit umgekehrter Absicht, zur Förderung der Unterdrückten und zum Abbau alter Privilegien. Das Ziel blieb aber die Gleichheit, bis der schreckliche Gedanke aufkam, dass die Gleichheit als Ideal selbst vielleicht ein heimliches Herrschaftsinstrument der Privilegierten sei. Es entstand, was heute Identitätspolitik genannt wird, die Stärkung und Bestärkung der Minderheiten und unterdrückten Bevölkerungsteile in ihrer Identität als Unterdrückte – also das ziemlich genaue Gegenteil des Universalismus, mit dem die Emanzipationsbewegungen angetreten waren.“

Wurde da wirklich gesagt, dass jede kritische Äußerung über den Islam rassistisch ist oder ging es doch vielleicht um die spezifische Weise, auf die Schröter sich äußert? Aufgrund der Paywall kann ich die Beweisführung nicht prüfen. Bestimmt ist sie wasserdicht.

Beispielhaft resümiert Martin Eimermacher ebenfalls in der Zeit denn auch die Debatte um die linke Studentengruppe an der Frankfurter Uni, die der Professorin Susanne Schröter unter dem Hashtag #schroeter_raus aufgrund ihres Kopftuch-Symposiums „antimuslimischen Rassismus“ vorwerfen (unsere Resümees) – und dabei jede kritische Äußerung über den Islam rassistisch nennt: „Wer im Westen kritisch über den Islam spricht, so klingt es an, tue das aus der Position der Bevölkerungsmehrheit und stehe damit zwangsläufig gegen die unterprivilegierte Minderheit. Jedes Urteil über den Islam kann durch diese Brille nur noch als projektives Vorurteil wahrgenommen werden, das nichts über den Islam und umso mehr über den Sprecher aussagt. Wer trotzdem Frauenunterdrückung in islamischen Gesellschaften thematisiert, siedelt so beinahe zwangsläufig in der Nähe westlichen Überlegenheitsdünkels.“

30. April

Wer dachte, das abgegriffene Silone-Zitat vom sich höflich vorstellenden Faschismus werde nur noch metaironisch verwendet, hat sich getäuscht – der Cicero ist eben der Cicero und nicht immer auf Höhe der Zeit. Und natürlich ist man bei der NZZ fast traurig.

Fast traurig liest sich der NZZArtikel des Wiener Philosophen Konrad Paul Liessmann über den Druck zu bestimmtem Sprachgebrauch oder Ausschluss bestimmter Diskussionspartner an Universitäten – natürlich nimmt er Bezug auf das Kopftuch-Symposion der Frankfurter Islamwissenschaftlerin Susanne Schröter (unsere Resümees): „Der Ruf nach Vorschriften, nach Verboten, nach Regelungen des Sprachgebrauchs, nach Normierung von Leselisten, nach Verbannung aller Positionen, die einem vermeintlich unfehlbaren Zeitgeist widersprechen, wird dabei nicht von übergeordneten Instanzen autoritär vorgeschrieben, sondern er kommt von unten. Von der Basis. Von den Studenten. Von kleinen, aber lautstarken Gruppierungen.“ Bei Cicero zitiert Frank A. Meyer Ignazio Silone zum Thema: „Der neue Faschismus wird nicht sagen: Ich bin der Faschismus. Er wird sagen: Ich bin der Antifaschismus.“

29. April

:eyeroll:

In der Welt versucht Martin Niewendick anlässlich der Debatte um Susanne Schröters Konferenz über die Frage: „Das islamische Kopftuch – Symbol der Würde oder der Unterdrückung?“ gar nicht mehr, die heutige Linke zu verstehen: „Man demonstriert mit Allahu-Akbar-rufenden Islamisten gegen den Staat der Holocaust-Überlebenden und ihrer Nachkommen, sieht im apokalyptischen iranischen Halsabschneider-Regime den ideellen Gesamt-Antiimperialisten und skandiert: ‚Hijab is Empowerment‘. Gleichzeitig wird an Ikonen wie Alice Schwarzer der queer-feministisch Muttermord vollzogen und die liberale Imamin Seyran Ates mit dem ‚haram‘-Stempel belegt: nicht erlaubt.“

Man kennt das: Wenn die Linken nicht nationalistisch genug sind, haben die armen Demokraten keine andere Wahl, als rechtsextrem zu wählen.

Bei den Wahlen in Spanien hat die sozialistische Arbeiterpartei von Ministerpräsident Sánchez die meisten Stimmen eingefahren, für eine absolute Mehrheit reicht es aber nicht. Dafür wird die rechte Vox-Partei erstmals ins Parlament einziehen. Paul Ingendaay, langjähriger Spanienkorrespondent der FAZ, blickt traurig zurück auf den Wahlkampf, der von Linken und Konservativen geprägt war, die irgendwo zwischen den sechziger und nuller Jahren hängen geblieben sind, während die Rechte Kapital aus dem katalanischen Sezessionsversuch 2017 schlägt: „Die Unverletzlichkeit des spanischen Territoriums ist ein berechtigtes Anliegen vieler Demokraten. Für diese Menschen der linken oder rechten Mitte jedoch gibt es im allgemeinen Dröhnen kaum noch Stimme und Platz: [Vox-Parteichef Santiago] Abascal hat das Nationalgefühl gekapert, in rechtsautoritären Patriotismus verwandelt und zur Waffe geschmiedet, um gegen Linke, Schwule, Einwanderer und Multikulturalismus vom Leder zu ziehen. ‚Insensatos!‘ (Unvernünftige) ruft er ihnen zu, und dann folgt die Litanei von Spaniens Größe, der verblüffend viele Menschen aus dem bürgerlichen Milieu zujubeln.“

Kalenderwoche 17/2019

Zahlreiche konservative Tränen wurden diese Woche in den Diskussionen um die von Susanne Schröter für den 8. Mai geplante Tagung „Das islamische Kopftuch – Symbol der Würde oder der Unterdrückung“ vergossen. Auch wenn man die von einigen studentischen Aktivist_innen erhobene Forderung „Schröter raus“ völlig unangemessen findet, bleibt bemerkenswert, wie weit die Realität und die Beurteilung durch konservative Leitmedien auseinanderliegen:

  1. Eine Professorin, die sich immer wieder zugespitzt politisch äußert, plant eine Konferenz, die wiederum politisch stark aufgeladen ist.
  2. Einige Studierende starten eine Online-Kampagne, in der Sie eine Absage der Konferenz und einen Rauswurf der Professorin fordern.
  3. Die Unileitung, der AStA, zahlreiche Kolleg_innen und Medien schlagen sich auf die Seite der Professorin. Die Kampagne erfährt fast keine Unterstützung.
  4. Die FAZ titelt: „Eklat um Kopftuchkonferenz: Das Ende von freier Rede und freiem Denken?“

26. April

Man kann sich gut vorstellen, wie Nico Hoppe minutenlang verzweifelt gegoogelt hat, in der Hoffnung, da doch irgendeine Stimme aus der kulturrelativistischen Linken zu finden, die sich auf die Seite des Sultans von Brunei schlägt. Eigentlich müssten sie es doch tun, diese Linken, die solch relativistische Werte wie Toleranz, Respekt und Verständnis vertreten! Warum sind nur bloß keine da, wenn man sie braucht? Egal, dann muss man das eben anders anstellen. Man erklärt diesen Linken (bei  denen man sich ganzganz sicher ist, dass sie wirklich so sind, wie man sie sich vorstellt!), dass sie sich eigentlich auf die Seite des Sultans schlagen müssten, damit dann aber auch zugleich zeigen würden, wie falsch ihr Denken ist. Kann man machen. (Die Frage seit wann Toleranz, Respekt und Verständnis links-kulturrelativistische und nicht einfach liberale Werte sind, mal außen vor gelassen.)

Die Ankündigung des Sultans von Brunei, Homosexuelle künftig per Scharia mit der Todesstrafe zu bedrohen, hat im Westen für eine gewisse Irritation gesorgt. Der Sultan erbat sich daraufhin in einem offenen Brief „Toleranz, Respekt und Verständnis„, also genau jene Haltungen, die hier von der kulturrelativistischen Linken verfochten werden, die sich über die Todesstrafe für Homosexuelle in anderen, meist muslimischen Ländern ja auch nicht scheren, schreibt Nico Hoppe bei den Salonkolumnisten. „Noch bekam der Sultan für sein Plädoyer keine Zustimmung von besonders nachsichtigen Kulturrelativisten. Ob und wann sich das ändern wird, lässt sich kaum einschätzen. Fakt ist jedoch, dass es jetzt schon Themen gibt, bei denen der Unterdrückung schneller als den Unterdrückten beigestanden wird. Bei jeder Diskussion über das islamische Kopftuch, bei jeder Frage, was der Islam mit dem Islamismus zu tun habe, bei jeder Bemerkung zu Antisemitismus, Misogynie und Homophobie des islamischen Milieus – der Einwand, dass man zuallererst ‚Toleranz, Respekt und Verständnis‘ entgegenbringen müsste, bevor man überhaupt näher nachhakt, ist selten weit.“

Auch Pascal Bruckner ist freilich eher liberal als konservativ. Aber es ist wiederum just die liberale Lust am Optimismus, die zur bekannten nostalgischen Geste führt. Der Liberale bedauert, dass da eine Jugend herangezogen wird, die nicht mehr optimistisch, sondern katastrophistisch in die Zukunft blickt. Als Problem benennt er aber bemerkenswerterweise nicht, dass dieser Generation die Welt in einem Zustand überlassen wird, der nach der vorherrschenden wissenschaftlichen Meinung tatsächlich katastrophale Folgen haben dürfte, sondern dass man diese Generation über das Bevorstehen der Katastrophen informiert:

Pascal Bruckner ist in der NZZ nicht wohl mit den gegen den Klimawandel kämpfenden protestierenden Kindern, die er verdächtigt, die Formeln der Erwachsenen nachzubeten: „Der ökologische Kampf hat seine Berechtigung, aber was in seinem Namen geschieht, ist bedenklich. Tag um Tag gewöhnt man die Kinder an den Katastrophismus, man sagt ihnen, dass der Planet in Flammen steht, dass Naturkatastrophen uns vernichten, dass wir Menschen den Preis für unser Treiben bezahlen und aussterben werden. So ziehen wir angsterfüllte Generationen heran: Die Kinder werden nicht eigentlich mobilisiert, sondern eher gelähmt.“

25. April

Man kennt es: Der Genderfeminismus hat den echten Feminismus kaputtgemacht – und deshalb ist er auch Schuld an allem Schlechten im Feminismus. Als habe es vor den 1990ern keinen Selbstverwirklichungsfeminismus für sozial privilegierte Schichten gegeben, als hätten nicht zahlreiche „Genderfeministinnen“ seit Jahren just diese sozialen Privilegien im Rahmen intersektionaler Kritik thematisiert. Aber nein. Früher war es besser, dann kamen die Pomos. Das ist die Story.

Ebenfalls in der NZZ ärgert sich Birgit Schmid über moderne, stets empörte LinksFeministinnen, die anderen Frauen vorschreiben wollen, „was eine gute Frau ist“ und dadurch individuelle Freiheit und echte Patriarchatskritik unmöglich machen. Und: „Die Supermarktangestellte erreicht der abgehobene Diskurs des Genderfeminismus nach wie vor nicht. Auch das wird nicht gerne gehört und als antiintellektuelles Statement genommen. Es ist aber eine Tatsache, dass wir alle, die wir uns mit dem Thema beschäftigen, als Privilegierte reden. Feminismus wurde in den letzten Jahren mehr und mehr als Selbstverwirklichung betrieben: von Karrierefrauen, die sich mit Quoten beschäftigen, bis zu den jungen Frauen, die am liebsten auch die Biologie einklagen würden, da ihnen weiterhin das Kinderkriegen obliegt. So entsteht eine Ferne zu den Frauen, die sich in schlecht bezahlten Jobs über Wasser halten oder deren Leben, weil sie als Mädchen geboren wurden, von Anfang an bedroht ist.“

24. April

Wie viele Texte von Judith Butler Jan Feddersens wohl gelesen hat? Wie viele Kulturrelativist*innen er wohl kennt, die nicht in der Lage sind, die Todesstrafe für gleichgeschlechtliche Sexualität zu kritisieren? Man kann nur spekulieren. (Meine Vermutung: jeweils null bis drei)

Der Sultan von Brunei fordert in einem Brief an die EU „Respekt“ für die in seinem Zwergstaat geltende Todesstrafe für Homosexualität. Mit dem gleichen „Respekt“-Argument wird ja auch das Kopftuch in muslimischen Ländern verfochten. Solche Zwänge lassen sich nur mit einem auf universellen Ideen beruhenden Diskurs bekämpfen, nicht mit dem Instrumentarium der von Judith Butler geprägten Linken, insistiert Jan Feddersen in der taz: „Denn was soll schon falsch sein an den Toleranz ersehnenden Wünschen, wie sie in Brunei formuliert wurden, wenn es denn die ihren sind? Der Westen hat den Kulturrelativist*innen zufolge nichts zu melden – gelobt sei kulturell das, was dort Tradition ist. Und ist es nicht so, dass Traditionalität, vermeintlich gelebte Authentizität jedes Menschenrecht auf individuelle Unversehrtheit durch staatliche Organe aushebelt – zumal wenn es aus Ländern kommt, die alles in allem nicht dem reichen Westen zugerechnet werden?“

Kalenderwoche 16/2019

20. April

Die Zahl der wissenschaftlichen Debatten, die an deutschen Universitäten einem identitätspolitisch-linken Political-Correctness-Meinungsdiktat zum Opfer gefallen wären, verweilt hartnäckig bei null. Ebenso die Zahl von Professor_innen, deren Karriere auf diese Art ein jähes Ende fand. Dennoch muss man unbedingt regelmäßig davor warnen, dass hier bald amerikanische Zustände herrschen könnten! Die jüngste Runde wurde vom Deutschen Hochschulverband eingeleitet und in der FAZ dankbar aufgenommen.

Auch auf Deutschland greift das zensorische Verhalten der universitären Linken über, konstatiert Jürgen Kaube im Leitartikel auf Seite 1 der FAZ und diagnostiziert auf magisches Denken: „Englisch würde man vom ‚No platform‚-Argument sprechen. Was nicht gefällt, soll erst gar keine Bühne erhalten. Unterstellt werden Ansteckungsgefahr und das Abfärben von Reputation auf die missliebigen Gegner.“

17. April

Wer immer bei der ARD die Entscheidung getroffen hat, keinen zehnstündigen Live-Brennpunkt zum Feuer von Notre Dame auszustrahlen, sollte mindestens einen Grimmepreis erhalten. Nichts ist sinnloser als dieses Sendeformat, in dem die nicht vorhandenen Informationen vor Fototapeten und Live-Bildern im Minutentakt wiederholt werden, unterbrochen nur von Expert_innen, die selbst nicht mehr wissen, aber dasselbe noch einmal anders sagen. Natürlich sieht man das bei der Welt ganz. Stell Dir vor, das Abendland geht unter und niemand sieht hin!

Dankwart Guratzsch von der Welt scheint bei Ereignissen wie diesem tatsächlich noch etwas von den öffentlich-rechtlichen Sendern zu erwarten, statt gleich zu BBC und CNN zu zappen. Natürlich liefen auf ZDF nur und ARD nur die üblichen Tierdokus und Talkshows: „In Paris stand eines der Symbolbauwerke des Abendlandes in Flammen – den öffentlichen Sendern war es keine Sondersendung wert. Sie handelten es in ihren Nachrichten wie den Brand in einem Reifenlager oder einer Textilfabrik ab. Das also ist die Europa-Idee, die in diesen Anstalten transportiert wird.“

Ein Kommentar in der taz handelt davon, dass die Geschicke der Welt in Zukunft wohl nicht mehr von der immergleichen Minderheit bestimmt werden könnte. Wie gibt der Perlentaucher das wieder? Mit einer historischen Analogie zum deutschen Imperialismus.

Heteros sind so was von out. Statt dessen sollte die deutsche Linke am queeren Wesen genesen, fordert die Journalistin Eva-Maria Tepest in der taz: „Das Einverständnis mit traditionellen Genderrollen zerbröckelt immer mehr, während das Versprechen der Heterosexualität immer weniger überzeugt. Denn mit Donald Trump, Jair Bolsonaro und Viktor Orbán verwirklichen alte weiße Männer ihre wahnhaften Vorstellungen von autoritärer Männlichkeit zum Leidwesen von Frauen, Queers, Armen und Schwarzen Personen.“

15. April

Der Zerfall der Gesellschaft in Stämme, Vico-Edition:

Die westlichen Gesellschaften werden immer infantiler, behauptet der stark mit dem italienischen Aufklärungsphilosophen Giambattista Vico argumentierende, in Pessimismus versinkende Kulturphilosoph Robert P. Harrison im Interview mit der NZZ. „Unsere Situation in der entwickelten Welt scheint paradox. Einerseits haben wir Vicos Endstadium erreicht: Wir wissen um die Verbundenheit von Ich, Wir und Welt, wir haben verinnerlicht, dass alles, was auf dem Globus geschieht, auf komplexe Art und Weise miteinander verbunden ist. Was in Indien oder Afrika passiert, betrifft uns hier in den USA. Völlig klar. Wir haben ein Bewusstsein des ganzen Menschengeschlechts. Doch ist diese Identifikation zugleich sehr abstrakt und darum schwach. Wir haben den Bogen überspannt. Nicht mehr jede politische Maßnahme lässt sich im Namen der Globalisierung rechtfertigen, von der angeblich alle profitieren. So bewegen wir uns weg vom Ideal einer universalistischen, aufgeklärten, ökonomisch und kulturell verflochtenen Menschheit hin zu einer Interdependenz neuer Stammesgesellschaften..“

Kalenderwoche 15/2019

13. April

Fast so gut wie der Papst (s.u.) ist Slavoj Zizek. Übersetzt: Der real existierende Feminismus ist bourgeoiser Quatsch, der unseren guten alten Klassenkampf kaputtmacht und die Revolution verhindert.

Nächste Woche steht in Toronto der große Philosophen-Fight an. In der rechten Ecke der Psychologie-Star Jordan Peterson, in der linken Slavoj Zizek. In der NZZ kocht René Scheu schon die Stimmung hoch. Zizek spielt mit und erklärt, warum Peterson die Feindbilder durcheinander gehen, warum er die totale Alternative zu diesem sei und was ihn aber auch als vernünftigen Marxisten von einem Linksliberalen unterscheidet: „Sie konzipieren den Menschen als fluides, flexibles Subjekt, das sich stets neu erfinden kann, ja muss, um sich vom Patriarchat zu befreien. Die Palette der Neuerfindungen reicht von der sexuellen Orientierung bis hin zur Karriere. Und die Linksliberalen verkaufen das als große Freiheit. So ein Bullshit. Was sie da herbeten, ohne es zu merken, ist – marxistisch gesprochen – geradezu der Kern der bourgeoisen Subjektivität. Und sie können das nur tun, weil sie selbst gut leben und zu den Privilegierten zählen.“

12. April

Die Tränen eines ehemaligen Papstes sind natürlich von allerhöchster Qualität! Natürlich sind die 68er schuld am jahrzehntelangen systematisch vertuschten Missbrauch von Kindern in der katholischen Kirche! Wer auch sonst?

Auch auf Deutsch veröffentlicht der Corriere della Sera Joseph Ratzingers Aufsatz zum sexuellem Missbrauch in der Kirche, der der 68er-Bewegung zu verdanken sei: „Zu der Physiognomie der 68er-Revolution gehörte, dass nun auch Pädophilie als erlaubt und als angemessen diagnostiziert wurde. Wenigstens für die jungen Menschen in der Kirche, aber nicht nur für sie, war dies in vieler Hinsicht eine sehr schwierige Zeit.“ Allen anderen Historikern war bisher nicht aufgefallen, dass katholische Priester den Weisungen der 68er folgen. Mehr in der taz.

Eigentlich dient mir ja die Perlentaucher-Auswahl als Filter, aber dieser Artikel des European ist doch zu schön, um ihn unerwähnt zu lassen – samt des Tweets, der locker mit einer Shoah-Relativierung spielt, die dann der Gegenseite in die Schuhe geschoben werden soll. Denn „irgendwo“ wurde „neulich“ so etwas gesagt – ganz bestimmt!

Früher gehörte zur politischen Linken die Kraft der Utopie: totale Gleichheit, ewiger Friede. Die klassische Linke war sich einst ihrer Heilsgewissheiten sicher. Doch seitdem sich der Mythos von der klassenlosen Gesellschaft selbst entzaubert hat und das Hauptthema zumindest unter westlichen Linken von der Politischen Ökonomie zur Ökologie gewandert ist, triumphieren die Unheilsgewissheiten. Wie hieß es neulich in einer Diskussion irgendwo in deutschen Landen: Was ist schlimmer, der Holocaust-Leugner oder der Klimawandel-Leugner? Der Klima-Leugner natürlich, beim Holocaust ging’s nur um sechs Millionen, beim Klimawandel aber um die gesamten Menschheit… Es gibt keine edlere Angst als die Umwelt-Angst.

11. April

Ostdeutsche Tränen spezial: Das muss man auch erst einmal schaffen: Sich über den Vergleich zwischen der Diskriminierung gegen Muslim_innen und der Diskriminierung gegen Ostdeutsche aufregen, weil das so ungerecht zu den Ostdeutschen ist! Was haben die Ostdeutschen denn so Schlimmes getan, dass sie jetzt in einem Atemzug mit Muslim_innen genannt zu werden!? Muslim_innen sind doch wirklich gefährlich fremd, die Ostdeutschen dagegen gar nicht so anders als die Westdeutschen – und sie haben noch nie Wien belagert! Man weiß gar nicht wo man anfangen soll. Dabei, dass Diskriminiertwerden und Anderssein zwei verschiedene paar Schuhe sind? Dabei, dass Muslim_innen sich sicher nicht selbst seit 1500 Jahren als andere gegenüber dem christlich geprägten Europa verstehen, sondern als eigene, für die das christlich geprägte Europa ab einem gewissen Zeitpunkt ein Anderes war?

Alles nur „Theaterdonner“ entgegnet in einem wütenden Welt-Essay der ostdeutsche Philosoph und evangelische Theologe Richard Schröder der These der Migrationsforscherin Naika Foroutan, Ostdeutsche und muslimische Migranten seien demselben Rassismus der westdeutschen Mehrheitsgesellschaft ausgesetzt. (Unsere Resümees). „Die ehemalige DDR, heute Ostdeutschland genannt, hat unter allen ehemals sozialistischen Ländern das große Losgezogen“, schreibt er und hält den Vergleich für „abwegig“: „Ostdeutsche und Westdeutsche verbindet dieselbe Sprache, dieselbe Geschichte, die lediglich 40 Jahre getrennt verlief, aber auch dieselbe Kultur einschließlich der Trivialkultur von Songs und Schlagern oder etwa der Mode. Uns trennen auch keine Speisevorschriften. Nur hinsichtlich der Christlichkeit gibt es markante, aber wohl doch eher quantitative Unterschiede, wenn wir Hamburg mit Leipzig vergleichen. Muslime dagegen haben nicht 40, sondern 1500 Jahre eine andere Kultur entwickelt und auch sich selbst als das andere gegenüber dem christlich geprägten Europa verstanden, das zu unterwerfen unbedenklich erschien. Zweimal standen die Osmanen vor Wien, und Erdogan preist die Eroberung des christlichen Konstantinopel.“

10. April

Dieser Artikel von Josef Beyer hält wirklich all das an Mansplaining, was der Teaser verspricht. Hier erklärt ein echter Professor für Linguistik den Gender-Quatschköpfen endlich mal, wie Sprache funktioniert. Eine Leseempfehlung!

Würde eine gendergerechte Sprache zu mehr Gleichberechtigung führen? Der Linguist Josef Beyer bezweifelt es in der NZZ stark, Umbenennungen hätten noch nie geholfen: „Ein Altenheim, das in Seniorenstift umbenannt worden ist, bleibt für die Insassen weiterhin ein reichlich tristes

9. April

Armin Nassehi ist sicher kein Konservativer – er ist der letzte Liberale in diesem Land! Aber die Klage über den Verfall der Gesellschaft in partikulare Identitäten beherrscht er umso besser. (Randbemerkung: Ob Linkssein vielleicht schon immer hieß, Menschen nicht danach zu beurteilen, was sie sagen, sondern danach, wie sie in der Gesellschaft positioiniert sind und was sie mit dieser Positionierung tun? Dann hätte Nassehi die Linken vielleicht immer als Liberale missverstanden.)

In der FAZ geißelt der Soziologe Armin Nassehi „eine Wiederkehr des Reaktionären auf allen Seiten“. Früher sei der Konflikt zwischen Linken oder Liberalen auf der einen Seite und ihren Gegnern vielleicht einer gewesen zwischen jenen, die Menschen danach beurteilten, „was sie sagen, oder danach, was sie sind„. Doch das bilde die heutige Situation nicht mehr ab: „Wir haben es, auf allen Seiten, immer stärker mit Äußerungen zu tun, wer man sei.“ Und Nassehi benennt die konfliktuelle Komplizenschaft zwischen rechten und linken Identitätsdiskursen: „In diesem Kulturkampf kann es weder Sieger noch einen Ausweg geben, weil sich die Identitäten gegenseitig bestätigen, ja voneinander leben.“

Und natürlich versteht man beim Perlentaucher, wer für diesen neuen Tribalismus verantwortlich ist: Postmigrant_innen, die Repräsentanz einfordern:

Und gleich ein Artikel, der wie eine Illustration zu Nassehis These wirkt: Beliban zu Stolberg, Ronya Othmann, Eser Aktay, Studenten mit Migrationshintergrund, schreiben in der taz, dass es viele zu wenige wie sie in den Redaktionen gibt. Je nachdem möchten sie als solche dort berücksichtigt werden oder auch nicht. „Bei Jan Fleischhauer und Sascha Lobo werden Haltung und Tonfall wahrgenommen. Im Gegensatz dazu wird Mirna Funk oft als die jüdische Kolumnistin und Ferda Ataman als die migrantische gelesen. Als ob das alles wäre. Repräsentation ist wichtig, Diversity ist wichtig.“

8. April

Noch ein Grenzfall, er sei hier aber aufgeführt, weil gleich zwei Kernmotive des konservativen Jammerns auftauchen: Zum einen der Strohmann eines gesellschaftspolitisch dominanten Multikulturalismus, der die Unterdrückung von Frauen mit Verweis auf eine andere Kultur, die man eben tolerieren müsse, rechtfertigt; zum anderen die damit verbundene These, dass am Ende doch Linke und Liberale irgendwie schuld an den Missständen sind. (Ausgeblendet wird dabei freilich, dass die jahrzehntelange Nicht-Integration einiger (post-)migrantischen Minderheiten wesentlich durch exkludierende Politiken betrieben wurde, die Deutschland auf keinen Fall als Einwanderungsland sehen wollen.)

Für Schwarzer beginnt genau hier der neue Rassismus: „Wir haben die Mehrheit der Muslime in Europa, die aufgeklärt sind und Demokratie wollen, im Stich gelassen und dem Druck der radikalen Minderheit ausgeliefert. Und wir haben uns nicht nur in Deutschland den ungeheuren Luxus erlaubt, nicht genau zu unterscheiden: zwischen normalen Muslimen und islamistischen Ideologen und Hetzern. Und jetzt wundern wir uns, wenn die Rechte da aufsattelt. Für diese neue Art von Rassismus sind die Kräfte verantwortlich, die immerzu diesen Kulturrelativismus gepredigt haben, die gesagt haben: Das ist eine andere Religion, das sind andere Sitten, die sind eben so. Du gehörst dazu, Margarete. Es gäbe keine AfD, wenn Liberale und Linke nicht so versagt hätten.“

Kalenderwoche 14/2019

4. April

Es ist nicht immer leicht zu sagen, was eine konservative Träne ist. Zum Beispiel in der Debatte um die Ausstellung „Contemporary Muslim Fashions“ in Frankfurt. Daher hier nur ein Schlaglicht: Damit, wie diese Debatte geführt wird, ist man beim Perlentaucher so unglücklich, dass man die Beiträge sehr deutlich kommentiert. Hier sei nur eine dabei aufgenommene Auflistung von Veränderungen zitiert, aufgrund derer Muslim_innen laut Perlentaucher nicht mehr das Argument gelten machen können, es gehe ihnen beim Kopftuchtragen um Selbstbehauptung. Denn wenn Amazon nicht mehr mit Woody Allen zusammenarbeitet, hat sich das Thema erledigt. (Hä?)

[Dieses Denken mag 1970 gegolten haben, aber wir leben jetzt im 21. Jahrhundert: Da stellen sich Musikliebhaber die Frage, ob man Michael Jackson noch hören darf. Da kündigt Amazon [korr.] seine Zusammenarbeit mit Woody Allen auf. Da werden Rechnungen aus 500 Jahren Kolonialzeit präsentiert. Da werden Feministinnen in die rechte Ecke gestellt, weil der ein oder andere AfDler auch gegen das Kopftuch ist. Kann es da für muslimische Teenager im Westen okay sein, das Kopftuch als radical-chic-Accessoire zu benutzen, obwohl Frauen in großenTeilen der islamischen Welt gefoltertvergewaltigt und ermordet werden, wenn sie das Kopftuch verweigern? Offenbar schon – vorausgesetzt die milde lächelnde weiße AlphaFrau in FAZSZ und Zeit (unsere Resümees) gibt ihren Segen. (Anja Seeliger, Perlentaucher)]

2. April

Ein klassisches Motiv des konservativen Jammerns: der Zerfall der Gesellschaft in Stämme. Die romantisierte Hochzeit von Gesellschaft, Debattenkultur und Republikanismus ist freilich immer genau die Zeit, in der 95% derer, die sich an öffentlichen Debatten beteiligten, weiße Männer aus den oberen schichten waren. Aber darum geht es natürlich nie.

In der NZZ wünscht sich Lukas Leuzinger eine Debattenkultur, in der nicht die „Stammeskrieger“ dominieren, sondern politische Wesen, mit „Verständnis für Andersdenkende“.

Kalenderwoche 13/2019

Diese Woche stand im Perlentaucher ganz im Zeichen der EU-Urheberrechtsreform, weshalb das konservative Jammern etwas weniger Raum einnahm als üblich. Ganz ohne Tränen ging aber auch die 13. Kalenderwoche nicht vonstatten.

30. März 2019

In der NZZ entdeckt Maximilian Zech die Gefahr des christlichen Fundamentalismus. Und was ist die aktuell gbedrohlichste Ausdrucksform dieses Fundamentalismus? Genau! Die brandgefährliche Idee der Nächstenliebe und die christlichen Versuche, sie den säkularen Mitbürger_innen in der Asylpolitik aufzuzwingen. Jürgen Habermas‘ politische Theorie wird dabei freilich nur zu der Hälfte rezipiert, die ins Konzept passt. Denn tatsächlich führt Habermas das christliche Konzept der Gottesebenbildlichkeit des Menschen als Beispiel für eine bereits erfolgte und erfolgreiche Übersetzung eines religiösen Konzepts in ein säkulares an, denn genau darauf beruhe unser Konzept der universellen Menschenwürde. Diese Menschenwürde kommt dann auch Flüchtenden zu, woraus sich eben politische und rechtliche Verpflichtungen ergeben. Aber damit sollte man sich nicht aufhalten.

Religion oder aus religiösen Vorstellungen gespeiste moralische Werte bestimmen heute immer mehr die Politik, obwohl für über 60 Prozent der Bevölkerung Religion keine Rolle mehr spielt. In der NZZ denkt Maximilian Zech mit Max Weber und Jürgen Habermas über die Folgen nach: „Der liberale Staat dürfe seine Bürger ‚nur mit Pflichten konfrontieren, die diese aus Einsicht nachvollziehen können‘, schreibt Habermas. Darum müssten religiöse Glaubensinhalte, wenn sie nach politischer Umsetzung verlangten, sprachlich und inhaltlich so gestaltet sein, dass sie auch für Andersgläubige und Atheisten plausibel erscheinen – so wie es bereits die Aufklärer gefordert haben. Eben an solcher Übersetzungstätigkeit mangelt es in der gegenwärtigen Debatte. All jene, die aus den christlichen Liebesgeboten eine bestimmte Politik ableiten wollen, müssen sich darum nicht nur die Frage gefallen lassen, wie realistisch diese Forderung ist. Mit welcher Legitimation? Auch darauf müssen sie eine Antwort finden.“

29. März 2019

Ulf Poschardt wehrt sich mit letzter Kraft gegen die drohende Auslöschung durch die für ihren schier grenzenlosen Vernichtungswillen wohlbekannte Margarete Stokowski – die damit in der Perlentaucherzusammenstellung das linke Pendant zum italienischen Innenminister (nicht: Ministerpräsidenten) Matteo Salvini bildet.

Während Linke gern jeden zum Rechten oder Rassisten abstempeln, der nicht bei drei vor ihrer Meinung stramm steht (Ulf Poschardt beklagt heute in der Welt die „Auslöschungs- und Bestrafungsfantasien“ einiger tazler und Margarete Stokowskis), entwickelt die Rechte eigene Strategien der Abqualifizierung von Kritikern. Für den italienischen Ministerpräsidenten Matteo Salvini sind sie schlicht „Anti-Italiener“, erklärt der italienische Philosoph Damiano Cantone in der NZZ. Und hat er damit Erfolg! Seine Strategie: „Er führt die Massen nicht, er folgt ihnen … Salvini gibt den Bürgern recht, er gibt ihnen dadurch ihre Würde zurück, er sagt ihnen die ganze Zeit, dass sie okay sind, wie sie nun mal sind (schließlich ist niemand perfekt), dass sie nicht die Schuld an ihrem Leiden tragen und dass er – und nur er – es ist, der ihre Sorgen wieder auf die politische Agenda setzt. Niemand wird mehr über sie lachen. Wenn er seine Behauptungen mit geradezu stoischer Ruhe vorbringt, dann zitiert er niemals Philosophen oder Intellektuelle, sondern seine Großmutter oder seinen Nachbarn, die Helden des Alltags, die ein Brot ein Brot nennen und ein Übel ein Übel.“

 

Kalenderwoche 12/2019

22. März 2019

Warum in dieser Aufzählung wohl nur die Verbrechen von den „nicht-westlichen Potentaten“ auftauchen, die (zumindest zu einem Zeitpunkt) auch Feinde des Westens waren? Bestimmt weil Fidel Castro wirklich viel Schlimmeres verbrochen hat als die indonesische Armee in den antikommunistischen Massakern Mitte der 1960er oder die diversen rechten Todesschwadronen in Lateinamerika!

Bret Stephens in der New York Times. […] „Das speist sich aus der größeren progressiven Fiktion, dass die großen Verbrechen der Nachkriegswelt diejenigen sind, die der Westen am Rest der Welt verübt hat. Viel schlimmer waren die Verbrechen nicht westlicher Potentaten – Mao Zedong, Pol Pot, Saddam Hussein, Fidel Castro, Idi Amin, Nicolás Maduro – an ihren eigenen Völkern.“

21. März 2019

Das bisschen Gender macht uns noch kaputt, sagt mein Mann.

Wir werden „geschichtslos“, wenn wir die Sprache bereinigen, schreibt die Schriftstellerin Angelika Klüssendorf in der Zeit, die ebenfalls die Petition gegen den „Gender-Unfug“ (Unser Resümee) unterschrieben hat. Sie zitiert ihren Mann Torsten Schulz, der als Universitätsprofessor tätig ist: „Gender, sagt er, ist längst eine Lobbyangelegenheit geworden. Es geht vor allem um Einfluss und Macht, um die Ausbreitung von Partikularinteressen. Die Mehrheit an der Uni fügt sich diesen Gruppen, die nicht bei Sprache haltmachen, sondern besonders in kultur- und geisteswissenschaftlichen Bereichen ganze Segmente von Forschung und Lehre okkupieren. Und die Studenten? Die Mehrzahl sieht diese Entwicklung kritisch. Sie interessieren sich vielmehr dafür, wie sie nach dem Studium Jobs bekommen. Deshalb gibt es auch einige, die sagen unter vier Augen, dass sie den Zirkus mitmachen, weil sie dadurch vielleicht eine Uni-Karriere ansteuern können.“

Ob man vielleicht hätte erwähnen sollen, dass sich die Proteste unter anderem gegen den Abbau genau des Sozialstaates richten, dessen Funktionieren hier als Argument gegen die Proteste ins Feld geführt wird?

Im Zeit-Gespräch mit Adam Soboczynski rechnet die deutsch-französische Schriftstellerin Geraldine Schwarz mit den Gelbwesten ab, erklärt, weshalb durch mangelnde Aufarbeitung der Rolle der Gesellschaft unter dem Vichy-Regime das Volk in Frankreich bis heute „glorifiziert“ werde und Massenaufstände anders als in Deutschland weniger kritisch betrachtet werden. Insbesondere kritisiert sie Eribon, Louis und Ernaux, die die Gelbwesten unterstützen: „Louis und insbesondere Eribon sind in Frankreich bei Weitem nicht so renommiert und bekannt wie in Deutschland. (…) Ihre Kritik am Zustand der Republik ist völlig maßlos und auf gefährliche Weise simpel: hier die korrupte Elite, dort das heilige, missbrauchte Volk. Es ist regelrecht gefährlich, so etwas zu behaupten, insbesondere wenn man wie Louis zum ‚Zerschmettern‘ der Bourgeoisie aufruft. Natürlich gibt es Armut in Frankreich, aber die Armutsquote von 14 Prozent ist niedriger als in vielen Ländern Westeuropas. Es gibt soziale Missstände, die man bekämpfen sollte, aber insgesamt funktioniert der Sozialstaat gut. Frankreich ist Weltmeister bei den Sozialabgaben.“

20. März 2019

Pascal Bruckner zündet eine vielschichtige Ironiebombe, indem er Derridas Idee von der immer nur „im Kommen“ befindlichen Demokratie zitiert, um übertrieben demokratische Forderungen als demokratiegefährdend auszuweisen.

Der französische Philosoph Pascal Bruckner fürchtet um die Demokratie in Europa. Es ist noch gar nicht so lange her, dass sie gehasst wurde und jetzt scheint es wieder so weit zu sein, schreibt er in der NZZ. Was die „Empörten“ derzeit am meisten aufbringt, ist ihr schillernder Charakter, den man gleichwohl unbedingt bewahren muss: „Das Unvollendete ist ein Wesenszug der Demokratie. Ihre Herrschaft ist immer eine kommende, und man würde sie betrügen, wenn man sie mit einem fest definierten Regime gleichsetzen würde. Wenn sie sich wie in Frankreich drei ebenso widersprüchliche wie unrealisierbare Ziele setzt und Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit proklamiert, dann hält sie damit einen Konfliktherd für die Ewigkeit bereit. Und genau darum ist dieses System auch so verletzlich.“

Der arme Niall Ferguson ist völlig in die Ecke gedrängt! Wer pathetische Apologien für den britischen Kolonialismus verfasst, könnte bei all dem linken Tugendterror bestimmt keine Professur an einer renommierten US-Universität bekommen! Bestimmt nicht!

Der britische Historiker Niall Ferguson klagt in einem sehr langen Interview mit der NZZ über die vielen Schneeflocken unter den amerikanischen Studenten, über den Kulturkampf der Linken, der Konservative und Liberale zunehmend in die rechte Ecke drängt und den damit einhergehenden Niedergang des akademischen Diskurses: „In den 1980er Jahren hieß das: Vielfalt an Ideen, Positionen, Zugängen. Heute heißt es: Diversität von Hautfarben, Geschlecht, sexuellen Präferenzen. Die neue Diversität ist das Gegenteil von echter Vielfalt. In ihrem Namen werden all jene diskriminiert, die nicht der gewünschten Weltanschauung entsprechen.“