Aktuell werden zwei bzw. drei gegeneinander gerichtete Aufrufe rund um das muslimische Kopftuch bei Minderjährigen diskutiert: Terre des Femmes hat bereits im letzten Sommer eine Petition für ein Verbot des Kopftuchs bei Minderjährigen im öffentlichen Raum gestartet. Diese Woche wurde nun ein Gegenaufruf von rassismuskritischen Pädagog_innen veröffentlicht, den auch ich unterzeichnet habe, obwohl ich zwar der Tendenz nach, aber nicht 100%ig mit ihm einverstanden bin. Nun reagierte Terre des Femmes mit einem zweiten Aufruf gegen den Gegenaufruf. Weil ich allen Beteiligten glaube, dass ihnen das Wohl von Mädchen und Frauen aufrichtig am Herzen liegt, versuche ich hier noch einmal die Argumente abzuwägen. Dabei komme ich zu dem Schluss, dass der Gegenstand durchaus Kompromisse zuließe – wenn man bereit ist, den Begriff „Kind“ wörtlich zu nehmen, anstatt ihn zum Kampfbegriff zu machen.
Inhalt
1 Einerseits: Das Problem existiert wirklich
Ja, es gibt in Deutschland muslimische Mädchen und Frauen, die von religiös legitimierten repressiven Geschlechternormen betroffen sind. Ja, diese Geschlechternormen sind teils mit dem Zwang oder Druck verbunden, ein Kopftuch zu tragen – sei es von Seiten der Eltern, sei es von Seiten anderer Verwandter oder sei es von Seiten von Mitschüler_innen. Diese Mädchen und Frauen zu unterstützen ist nicht nur ein Gebot mitmenschlicher Solidarität, es zählt auch zu den Verfassungsaufgaben des deutschen Staates: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.“ (Art. 3, Abs. 2 GG). Und ja: einigen dieser Mädchen und Frauen könnte durch ein Kopftuchverbot geholfen werden: Wenn sie dem Druck aufgrund des Verbots gar nicht folgen können, ist er automatisch entschärft.
Solche Probleme werden im Aufruf von Terre des Femmes thematisiert, als seien sie repräsentativ; im rassismuskritischen Gegenaufruf werden sie dagegen als pädagogisch bearbeitbare Einzelfälle thematisiert – beides ist meiner Ansicht nach zu bequem.
2 Andererseits: So einfach ist es nicht
Eine große Zahl quantitativer und qualitativer Studien zeigt unzweifelhaft, dass die eingangs skizzierten Darstellungen von Geschlechterverhältnissen rund ums Kopftuch keinesfalls verallgemeinerbar sind. Die Reduktion des Kopftuchs auf ein Symbol und Mittel patriarchalischen Zwangs ist empirisch einfach nicht haltbar.
Die Petition von Terre des Femmes bildet ein Paradebeispiel für eine solche reduktionistische Darstellung. Dies wird nicht zuletzt durch die Karikatur deutlich, die zur Illustration der Petition genutzt wurde: Diese zeigt fröhliches unverschleiertes Mädchen in T-Shirt und kurzer Hose auf einem Rennrad, das sehnsüchtig von einem traurigen Mädchen mit Kopftuch beobachtet wird. Die Botschaft ist klar: Ein Kopftuch zu tragen heißt unterdrückt zu sein; Freiheit gibt es nur ohne Verschleierung; Entschleierung ist Befreiung.
Sozialwissenschaftliche Studien zeigen aber regelmäßig, dass die Realitäten sehr viel komplizierter sind. Unter Kopftüchern stecken in aller Regel nicht einfach unterdrückte Mädchen, die sich nach Entschleierung sehnen, welche dann mit einer Befreiung gleichzusetzen wäre. Vielmehr finden um das und mit dem Kopftuch eine Vielzahl von ambivalenten symbolischen und praktischen Aushandlungen statt. Unter anderem nutzen junge, nicht mehr schulpflichtige Frauen das Kopftuch, um einerseits ambitionierte Bildungskarrieren zu verfolgen und zugleich ihrem diesen Karrieren gegenüber skeptischen Herkunftsmilieu Kontinuität, Traditionalität und religiöse Tugend zu signalisieren. Besser wäre es freilich, wenn niemand den Bildungskarrieren von Mädchen skeptisch gegenüberstünde, aber dies lässt sich durch staatlichen Zwang nicht verändern. Es lässt sich aber dadurch verändern, dass neue Generationen von Mädchen und Frauen mit muslimischem Hintergrund höhere Bildungsabschlüsse erzielen, sich dadurch ermächtigen und die nächste Generation weniger skeptische Eltern hat. Ein generelles Kopftuchverbot für Minderjährige würde diesen Mädchen und Frauen ebenso in den Rücken fallen, wie es die Entscheidungsmöglichkeit aller Mädchen und Frauen beschneiden würde, die sich aus den verschiedensten Gründen jenseits von Zwang und „Sexualisierung“ für das Tragen eines Kopftuchs entscheiden wollen.
Einige Befürworter_innen des Verbots argumentieren dann mit „Verblendung“ und „falschem Bewusstsein“: Eigentlich sei das Kopftuch Unterdrückung; Frauen, die sagen, sie trügen es aus freien Stücken oder um etwas ganz anderes auszudrücken, litten entweder unter einer Art Stockholm-Syndrom oder seien selbst Teil einer islamistischen Offensive. Glauben dürfen die Verbotsbefürworter_innen das ja, aber auf einer solchen Grundlage ein mit staatlichen Zwangsmitteln durchgesetztes Verbot zu fordern, ist nicht nur paternalistisch und autoritär, sondern auch unvereinbar mit dem Grundgesetz. Formen der Lebensführung, die man für unfrei und repressiv hält, kann und sollte man öffentlich kritisieren; aber man kann sie nicht kurzerhand vom Staat verbieten lassen.
Denn auch die Toleranz für die – aus welchen Gründen auch immer vollzogene – Entscheidung, das Kopftuch zu tragen, ist kein bloßes Gebot von Höflichkeit: Für den deutschen Staat ist sie eine Verfassungspflicht mit Grundrechtsrang. Deutsche Gerichte haben relativ konsistent so geurteilt, dass das Tragen eines Kopftuchs durch das Grundrecht auf Religionsfreiheit nach Art. 4 GG gedeckt ist. Dieses Rechtsgut könnte allenfalls durch ein anderes Grundrecht übertrumpft werden. Beim Kopftuch von Lehrer_innen kann man noch dahingehend argumentieren, dass es die negative Religionsfreiheit der Schüler_innen verletze (eine Argumentation, die letztlich vorm Bundesverfassungsgericht keinen Bestand hatte). Beim Kopftuch von Schüler_innen ist auch das nicht ohne weiteres möglich. Die Tatsache, dass das Kopftuch in einigen Fällen ein Mittel von Zwang ist oder den Druck auf Dritte erhöht, auch eines zu tragen, bildet keinen Grundrechtskonflikt, der ein allgemeines Verbot dieses Kleidungsstücks und religiösen Symbols bei Minderjährigen legitimieren könnte.
Daher wäre ein allgemeines Verbot des Kopftuchs für Minderjährige, wie Terre des Femmes es fordert, nicht nur verfehlt, sondern auch rechtlich aussichtslos. Für ein solches Verbot Kampagne zu machen, ist daher zwar dazu geeignet eine kulturkämpferische Stimmung anzuheizen und weiter in Schulen zu tragen, aber nicht dazu, die Situation von realen Mädchen und Frauen zu verbessern.
Dies gilt umso mehr, wenn die Statements, mit denen diese Forderung begleitet werden, vor pauschalisierenden Klischees strotzen, die eine Anschlussfähigkeit zu antimuslimischen Rassismus herstellen –auch dieser Rassismus schadet dem Wohl muslimischer Mädchen und Frauen in besonderem Maße. Eine solche Anschlussfähigkeit an rassistische Diskurse verschwindet auch nicht dadurch, dass man sich in einer anderen Erklärung auch gegen Rechtspopulismus wendet.
3 Es rettet uns kein höheres Wesen! Weder aus der einen…
Aber die Aufrufe von Terre des Femmes sind nicht nur blind für Ambivalenzen und Widersprüche, sie schlagen teils selbst einen geradezu religiösen Ton an, der dem Verbot des Kopftuchs eine beinahe heilsgeschichtliche Rolle zuweist. So heißt es in der Gegenerklärung gegen den Gegenaufruf, ein Kopftuchverbot führe dazu, dass „alle Mädchen […] allen Jungen in allen schulischen Themenbereichen gleichgestellt“ wären und gestärkt würden, „damit sie frei von Religion, Tradition, Herkunft und Geschlecht sich selbstbestimmt entwickeln können“. Diese Sätze setzen implizit voraus, dass das Kopftuch das einzige Hindernis sei, das den Status quo von einer völligen Gleichstellung der Geschlechter in der Schule trennt. Natürlich wissen diejenigen, die das geschrieben haben, dass das nicht stimmt und es auch ohne Kopftuch noch unzählige Faktoren gäbe, die einem solchen utopischen Zustand im Wege stehen. Und gerade weil sie es wissen, sind diese Sätze unredlich, wenn nicht demagogisch.
Ähnliches gilt für die Verwendung des Wortes „Kinderkopftuch“ für das Kopftuch bei Minderjährigen, wie Terre des Femmes sie systematisch vollzieht. Weder nach deutschem Recht noch im allgemeinen oder wissenschaftlichen Sprachgebrauch ist eine 17jährige ein Kind – und das ändert sich auch nicht dadurch, dass sie durch die UN-Kinderrechtskonvention geschützt ist. Terre des Femmes spricht dennoch laufend vom „sogenannten Kinderkopftuch“. Dies ist besonders unredlich, weil vor ihrem eigenen Aufruf kaum jemand auf die Idee gekommen wäre, das Kopftuch einer 17jährigen als „Kinderkopftuch“ zu bezeichnen. Anders als das Wort „sogenannt“ insinuiert, passt man sich mit der Wortwahl nicht einfach dem gängigen Sprachgebrauch an, sondern entscheidet sich bewusst für eine irreführende Vokabel. Man nutzt das Wort „Kind“, um das Thema möglichst stark moralisch aufzuladen und die Kopftuchträgerinnen als wehrlose Opfer darstellen zu können, thematisiert dabei aber de facto Menschen, die keine Kinder mehr sind und die durch diese Bezeichnung entmündigt und infantilisiert werden. Das Wort „Kinderkopftuch“ ist in diesem Zusammenhang ein demagogischer Kampfbegriff
4 …noch aus der anderen Richtung
Aber auch im Gegenaufruf, den ich selbst mitgezeichnet habe, taucht mehrfach eine rettende Instanz auf, die allmächtig und heilsbringend zu sein scheint, nämlich die pädagogische bzw. sozialarbeiterische Intervention: Gäbe es wirklich einmal Probleme mit patriarchalischem Zwang, sollen sie durch solche Maßnahmen bearbeitet und gelöst werden.
Eine solche Bearbeitung ist sicherlich wünschenswert und notwendig. Existierten bei Lehrkräften, in der Schulsozialarbeit, in Jugendämtern und in der außerschulischen Jugendarbeit die notwendigen Ressourcen, Kompetenzen und der entsprechende Wille, wäre sie vielleicht sogar hinreichend. Betrachtet man die Lage jedoch ehrlich, muss man eingestehen, dass Ressourcen und Willen nicht in diesem Ausmaß existieren und die Pädagogik entsprechend viele Kinder und Jugendliche im Stich lässt – nicht nur Mädchen mit Kopftuch.
Daher sollte man Pädagogik und Verbot nicht einfach als Gegensätze darstellen, sondern ehrlich fragen, ob und unter welchen Bedingungen ein Verbot die pädagogische, edukative und soziale Bearbeitung eher unterstützen und unter welchen sie sie etwa durch die unnötige Stiftung von kulturkämpferischen Konflikten erschweren würde.
5 Ein Kompromiss wäre möglich: Ein Verbot für Kinder im Wortsinne
Ein Kompromiss scheint durchaus möglich. Dieser könnte darin bestehen, das Wort „Kind“ wörtlich und nicht irreführend zu gebrauchen. Ein Kopftuchverbot in Kindergärten und Grundschulen – ggf. auch eines bis zum Ende des 14. Lebensjahrs, wenn nach deutschem Recht die Kindheit endet und die volle Religionsmündigkeit erreicht wird – könnte rechtlich möglich sowie politisch und pädagogisch sinnvoll sein.
Rechtlich könnte sich ein entscheidender Unterschied daraus ergeben, dass man leicht zahlreiche religiöse Autoritäten aus allen großen islamischen Strömungen fände, die bezeugen, dass es keine religiöse Grundlage für das Kopftuch bei Mädchen im Grundschul- oder gar Kindergartenalter gibt. Damit würde ein Kopftuchverbot in diesen Altersgruppen nur noch sehr bedingt mit der Religionsfreiheit kollidieren, sondern vor allem mit dem einfachen Recht der Eltern, über die Bekleidung ihrer Kinder zu bestimmen – und dieses ist durch gut begründete Kleiderordnungen für Schulen durchaus übertrumpfbar.
Damit wäre auch der kulturkämpferische Aspekt eines Verbots deutlich entschärft, weil eine solche Regelung weniger stark als Angriff auf den Islam wahrgenommen würde.
Pädagogisch und politisch ist es zudem so, dass Mädchen eine Entscheidung für oder gegen das Kopftuch wohl nur dann halbwegs frei treffen können, wenn sie die Verschleierung nicht schon von klein auf habitualisiert haben. Ein Kopftuchverbot bei Kindern im Kindergarten- und Grundschulalter ist keine paternalistische Infantilisierung von jungen Frauen, sondern ein Schutz von realen Kindern – und bei Eltern, die ihre Töchter im Kindergarten- oder Grundschulalter verschleiern wollen, ist ein besonderer Schutz der Kinder mit hoher Wahrscheinlichkeit auch angebracht.
6 Ist der mögliche Kompromiss auch sinnvoll?
Eine solche Gesetzesinitiative wäre genau dann sinnvoll, wenn in deutschen Kindergärten und Schulen im großen Ausmaß Probleme bestehen, deren Bearbeitung dadurch relevant unterstützt würde. Wenn dies nur an sehr wenigen Institutionen der Fall ist, wäre ein allgemeines Gesetz wohl nicht der richtige Weg – die politischen und gesellschaftlichen Kosten wären hier größer als die zu erwartenden positiven Effekte. Eine Bearbeitung durch Regelungen auf Schulebene und individuelle Interventionen wäre sinnvoller. Sollte jedoch als Zustand oder Trend eine weite Verbreitung von Kopftüchern bei Kindern unterer Jahrgänge in der Fläche bestehen, könnte ein Gesetz sinnvoll sein. Entschieden werden könnte dies nur durch eine entsprechende Erhebung.
7 Das Gebot des Universalismus: Welche Gesetze müssten dann noch folgen?
Gesetze müssen allgemein sein. Zwar können sie besondere Problemlagen adressieren, aber legitim ist dies nur, wenn analoge Problemlagen ebenfalls in vergleichbarer Weise bearbeitet werden.
Dies ist zum einen aus Gründen der Gerechtigkeit geboten: Keine Gruppe darf unbegründet anders behandelt werden als andere – weder, indem sie unbegründet besondere Einschränkungen erfährt, noch indem sie unbegründet besonders geschützt wird. Zum anderen ist es aus Gründen der gesellschaftlichen Legitimität geboten: Wenn Gruppen den nachvollziehbaren Eindruck haben, sie würden einseitig diskriminiert, schadet dies dem Rechtsfrieden.
Auch wenn man ein Verbot des Kopftuchs bei Kindern gar nicht allgemein-laizistisch, sondern mit Besonderheiten der islamischen Verschleierung begründet, könnte es daher durchaus sinnvoll sein, es mit analogen Verboten für religiöse Symbole und Kleidungsstücke anderer Gemeinschaften zu verbinden. Dies ist in einigen Fällen gar nicht leicht. So gab es in der mittelhessischen Region, in der ich selbst zur Schule ging, protestantische Gemeinden, in denen Mädchen immer nur Röcke und nie Hosen tragen. Dies nicht auch zu verbieten, wäre diskriminierend; Röcke zu verbieten, aber auch kein gangbarer Weg.
Aber es geht nicht nur um die Gleichbehandlung religiöser Gemeinschaften, ihrer Symbole und Praktiken. Auch die substanziellen Gründe für das Verbot müssten an anderen Stellen analog angewendet werden.
Legitimiert man das Verbot mit einer mit dem Kopftuch einhergehenden „Sexualisierung“ von Mädchen, müsste man auch andere Praktiken problematisieren und ggf. verbieten – was aber kaum möglich wird: Sind nicht auch Bikinis und Miniröcke Teil einer sexualisierenden Kleidungsregimes? Zwar eines qualitativ ganz anderen als das orthodox-islamische, aber doch eines diskriminierenden, dem kleine Mädchen nicht ausgeliefert sein sollten? Wie wäre damit umzugehen?
Legitimiert man das Verbot dadurch, dass rund um das Kopftuch Fälle von Mobbing vorkommen, dem Mädchen zum Opfer fallen, denen „unangemessene“ Kleidung vorgeworfen wird, ist damit das ganze Feld von Bekleidung und Mobbing aufgerufen und somit die Diskussion um teure Markenkleidung, soziale Unterschiede und Schuluniformen. Denn die Zahl von Kindern aus Haushalten mit geringem Einkommen, die an Schulen für ihre Kleidung gemobbt werden, ist sicher nicht geringer als die Zahl der Mädchen, denen dies wegen eines „fehlenden“ Kopftuchs widerfährt.