Am 6. März 2019 diskutierte ich im Rahmen des Philosophischen Aschermittwoch an der Universität Bielefeld unter dem Titel Der Rechtsruck – Was tun? mit Wiebke Esdar, Peter Schulte und Anna-Bella Eschengerd. Hier dokumentiere ich nun das zum Essay ausgebaute Manuskript meines Eingangsstatements als Blogbeitrag. In diesem diskutiere ich zunächst, in welchem Sinne überhaupt von einem Rechtsruck die Rede sein kann, gehe dann auf die Ursachen und schließlich auf die möglichen Gegenstrategien ein. In allen drei Punkten komme ich zu dem Schluss, dass der Fokus auf Fragen der politischen Repräsentation liegen sollte.
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I. Rechtsruck, welcher Rechtsruck?
Um auf die im Titel der Veranstaltung gestellte Frage, was angesichts des Rechtsrucks zu tun sei, antworten zu können, ist zunächst einmal darzulegen, von was für einem Rechtsruck wir überhaupt sprechen. Die Metapher des Rechtsrucks impliziert, eine starke und schnelle Verschiebung „nach rechts“ – also hin zu autoritären und/oder marktradikalen Positionen. Betrachtet man die verschiedenen Ebenen, auf denen ein solcher Rechtsruck stattgefunden haben könnte, zeigt sich ein durchaus ambivalentes Bild. Auf den meisten Ebenen lässt sich in den letzten Jahre kein deutlicher Ruck nach rechts beobachten – teils sogar eher das Gegenteil. Ein klarer Rechtsruck hat nur in den Parlamenten stattgefunden, was allerdings für die Zukunft auch auf anderen Ebenen entsprechende Dynamiken befürchten lässt.
- Auf der Einstellungsebene, wie sie sich mit den Mitteln der quantitativen Sozialforschung erfassen lässt, ist für die letzten Jahre kein Rechtsruck festzustellen. Die verschiedenen Langzeitstudien, die autoritäre, rassistische, antisemitische usw. Einstellungen messen (die Projekte zu Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und die Mitte-Studien), haben in den letzten 15 Jahren keine ruckartigen Anstiege rechter Attitüden festgestellt. Neben diversen Schwankungen lässt sich tendenziell ein Zunehmen islamfeindlicher Einstellungen und ein Abnehmen homophober Einstellungen feststellen, aber ein allgemeiner Ruck nach rechts bildet sich in diesen Daten einfach nicht ab. Insofern ist bei aller gebotenen Vorsicht angesichts der zahlreichen möglichen verzerrenden Faktoren davon auszugehen, dass die Bevölkerung der Bundesrepublik heute nicht wesentlich rechter eingestellt ist als vor fünf, zehn oder zwanzig Jahren.
- Auf der Ebene des öffentlichen Diskurses scheint mir das Bild ambivalent und unentschieden. Zwar wird oft eine allgemeine Tendenz zur „Erweiterung der Grenzen des Sagbaren“ beklagt, die in der Tat einen diskursiven Rechtsruck markieren würde, jedoch kann ich diese so allgemein nicht erkennen. Wie man die Veränderungen von Diskurs und Sagbarkeit einschätzt, hängt zunächst vom Zeithorizont der Betrachtung ab.
Nehmen wir beispielsweise die aktuellen Debatten um die schlechten und diskriminierenden Witze von Bernd Stelter über Annegret Kramp-Karrenbauer sowie von Annegret Kramp-Karrenbauer über Trans- und Intersexuelle. Es steht außer Zweifel, dass hier Grenzen des öffentlich unsanktioniert Sagbaren ausgehandelt werden; ähnliches gilt in Bezug auf „Indianerkostüme“. Es ist gut, dass diese Witze skandalisiert und Kostüme problematisiert wurden, weil sie diskriminierend sind. Ein Anzeichen für eine Erweiterung der „Grenzen des Sagbaren“ kann ich darin aber gerade nicht entdecken. Witze über Doppelnamen waren vor 20 Jahren noch ebenso alltäglich wie Witze über Homosexuelle; Trans- und Intersexuelle waren gesellschaftlich so weitgehend unsichtbar, dass entsprechende Witze weniger verbreitet waren – weithin als menschenfeindlich und diskriminierend skandalisiert worden wären sie aber eher nicht. „Cowboy- und Indianerkostüme“ wären allenfalls wegen der zugehörigen Waffen problematisiert worden. Denkt man weiterhin daran, wie in Helmut Kohls CDU in den 1980ern und 1990ern gehetzt wurde – nicht nur von der Stahlhelm-Fraktion um Alfred Dregger –, denkt man allgemeiner daran, welche Arten des Sprechens über nicht als deutsch geltende Personen, Homosexuelle, Frauen usw. in Medien und Alltag noch vor 20 oder gar 30 Jahren ganz normal waren, muss man in einer Jahrzehnte umspannenden Perspektive eher von einem fortdauernden Prozess der Zivilisierung des öffentlichen Diskurses in Deutschland sprechen als von einer „Erweiterung des Sagbaren“.
Verengt man die Perspektive dagegen auf die letzten Jahre, wird deutlich, dass dieser Fortschritt kein Selbstläufer ist, sondern umkämpft bleibt. Denn tatsächlich hat die Rechte einige diskursiven Erfolge gefeiert, die als Erweiterung von Sagbarkeitsgrenzen gefasst werden können – paradigmatisch bleibt die Debatte um Thilo Sarrazins 2010 erschienenes Buch „Deutschland schafft sich ab“. Hier wurden tatsächlich in lautstark biologistisch-rassistische Thesen vertreten und weithin als diskutabel angesehen, bei denen ich das in den Jahren zuvor so nicht erwartet hätte.
Ich sehe zwei mögliche Interpretationen dieser Dynamiken. Optimistisch gesehen handelt es sich bei den Debatten à la Sarrazin um verzweifelte Rückzugsgefechte und das letzte Aufbäumen in paar alter reaktionärer Männer, die um die Erhaltung ihrer Privilegien ringen. Pessimistisch gesehen handelt es sich um einen veritablen Backlash, den man im Rückblick wirklich als Rechtsruck bezeichnen müssen wird. Was von beidem richtig gewesen sein wird, ist freilich nicht nur eine Frage der korrekten Interpretation ohnehin ablaufender Prozesse, sondern bleibt eine politische, also kontingente Frage: Der Diskurs und seine Grenzen sind aktuell umkämpft und wie dieser Kampf ausgeht, ist bislang offen. Von einem Rechtsruck ist entsprechend bislang nicht ohne weiteres zu sprechen. - Am schwersten fällt die Einschätzung in Bezug auf die Ebene des alltäglichen Diskurses. Einerseits ist es sehr gut möglich, dass das Phänomen der Kommunikationslatenz dazu führt, dass sich die Zahl rechter Äußerungen im Alltag steigert, obwohl die Verbreitung entsprechender Einstellungen gleichbleibt. Kommunikationslatenz bedeutet, dass Personen beispielsweise rassistisch denken und urteilen, sie aber davon ausgehen, dass entsprechende Äußerungen sozial unerwünscht sind und sanktioniert werden, weshalb sie ihre Einstellungen für sich behalten. Wenn solche Legitimitätswahrnehmungen sich dann unter dem Eindruck rechter Offensiven im öffentlichen Diskurs verändern, kann es sein, dass Menschen sich eher trauen, ihren Rassismus zu äußern, was dann zu einer Zunahme rassistischer Äußerungen im Alltag führen würde. Dies ist schwer zu messen, aber plausibel.
Andererseits sollte man nicht unterschätzen, wie normal rassistische, sexistische usw. Äußerungen in Alltagsdiskursen auch vor zehn oder fünfzehn Jahren waren, sodass nicht vorschnell von einem Rechtsruck gesprochen werden sollte. - Blickt man auf die Ebene realer sozialer und politischer Diskriminierung zeigen sich keine klaren Hinweise auf einen umfassenden Rechtsruck. Es gibt zweifelsohne deutliche rassistische, heterosexistische usw. Diskriminierung im Alltag, auf dem Wohnungsmarkt, auf dem Arbeitsmarkt und in staatlichen Institutionen. Das drastischste Beispiel für solche Diskriminierung bilden die behördlichen und medialen Reaktionen auf die NSU-Mordserie. Jedoch hat diese Mordserie und haben die verfehlten Reaktionen eben schon im Jahr 2000 begonnen und stehen in der Tradition von ähnlichen behördlichen Vertuschungen etwa im Kontext des Oktoberfestattentats von 1980. Es gab in der Geschichte der Bundesrepublik nie eine Zeit ohne Diskriminierung, sodass sich im Zeitverlauf auch nicht ohne weiteres eine klare Zuspitzung von Diskriminierung erkennen lässt, die man als Rechtsruck in den letzten Jahren beschreiben könnte. Blickt man auf die bundesdeutschen Binnenverhältnisse, liegt im Gegenteil der Schluss nahe, dass es in der Bundesrepublik nie eine Zeit gegeben hat, in der ein so großes und weit verbreitetes Problembewusstsein für Diskriminierung existierte. Ich wüsste jedenfalls nicht, in welcher Zeit Rassismus und Sexismus in all ihren Spielarten in Deutschland öfter und offener thematisiert und skandalisiert worden wären, als es heute etwa im Kontext von #metoo oder #metwo der Fall ist.
- Betrachtet man Diskriminierung dagegen nicht nur im Binnenverhältnis, sondern auch in Bezug auf Fragen von Migration und Staatsangehörigkeit, so stellen die Asylrechtverschärfungen der letzten Jahre eine gesteigerte Schlechterstellung von Menschen ohne privilegierte Staatsangehörigkeit dar. Hier könnte man tatsächlich von einem Rechtsruck sprechen. Allerdings dürften die Gesetzesänderungen in gewissem Maße auch als Reaktion darauf zu lesen sein, dass die Immigration nach Deutschland durch Europäisierung, Globalisierung und technischen Fortschritt heute insgesamt sehr viel mehr Menschen möglich ist, als das vor einigen Jahrzehnten der Fall war. In den 1970er Jahren war das grundgesetzlich verankerte Asylrecht auf dem Papier noch durch weniger Einschränkungen verwässert; dennoch kommen heute weitaus mehr Menschen in den Genuss entsprechende Rechte.
- Auf der Ebene rechter und rassistischer Gewalt lässt sich in den Jahren um 2015 definitiv ein ruckartiger Anstieg von Gewalttaten insbesondere gegen (vermeintliche) Geflüchtete, ihre Unterkünfte oder prospektiven Unterkünfte verzeichnen, was die Rede von einem Rechtsruck zunächst angemessen scheinen lässt. Jedoch scheint spätestens 2017 ein Rückgang eingesetzt zu haben, nach dem diese Gewalt sich jetzt wieder in der vorherigen Größenordnung bewegt. Ich will diese Gewalt nicht kleinreden, aber ein nachhaltiger Rechtsruck bildet sich auch in den verschiedenen Statistiken zu rechter und rassistischer Gewalt nicht ohne weiteres ab. Dies gilt umso mehr, wenn man bedenkt, dass der Sommer der Migration 2015 auch von einem großen Ausmaß an Solidarität und Hilfsbereitschaft begleitet war, was der These eines Rechtsruck der deutschen Gesellschaft entgegensteht und eher auf ein Auseinanderrücken als auf ein Nach-rechts-Rücken verweist.
- Auf der ökonomischen Ebene hat zweifelsohne ein Rechtsruck stattgefunden – jedoch wurde dieser diskursiv lange vorbereitete Ruck bereits vor 15 Jahren mit den Agenda-2010-Reformen politisch vollzogen. Diesen Rechtsruck halte ich für normativ sehr problematisch, jedoch ist er zumeist gar nicht das, was gemeint ist, wenn heute von einem Rechtsruck gesprochen wird – auch wenn beides miteinander zu tun haben dürfte, wie ich unten darlege.
- Auf der rechtspolitischen Ebene, also bezogen auf in jüngerer Zeit erfolgte Gesetzesänderungen, bleibt das Bild ebenfalls ambivalent. Klammert man die erwähnten ökonomischen Reformen unter Rot-Grün aus, sehe ich deutliche Anzeichen für einen Rechtsruck bis dato nur in zwei Bereichen, nämlich im Migrationsrecht und im Polizeirecht. In ersterem Bereich haben bezogen auf Asylrecht wie oben erwähnt Verschärfungen stattgefunden – insbesondere mit dem „Asylkompromiss“ der 1990er und den „Asylpaketen“ der letzten Jahre; diesen Verschärfungen stehen Liberalisierungen in Bezug auf andere Formen der Migration und auf Einbürgerungen entgegen. Eindeutiger stellt sich die Lage in Bezug auf die Novellierung der Polizeigesetze auf Länderebene dar, die zuletzt mit einem relativ geringen Ausmaß medialer Skandalisierung durchgesetzt wurden. Bedenkt man, dass sich das Ausmaß von Gewaltverbrechen in der Bundesrepublik historisch betrachtet auf einem relativ niedrigen Niveau bewegt, ist es auch angesichts der realen Gefährdung durch djihadistische und rechtsterroristische Anschläge rational kaum nachvollziehbar, dass die Handlungsmöglichkeiten der Polizei durch diese neuen Polizeigesetze ruckartig expandiert werden – bis hin zur Möglichkeit zu ausgedehnter Haft und Überwachung ohne richterliche Anordnung. Solcher Autoritarismus, der Polizeibefugnisse ohne ernsthafte rechtsstaatliche Kontrolle auf Kosten von Grundrechten erweitert und dabei auf wenig Gegenwehr stößt, könnte durchaus als Ruck nach rechts bezeichnet werden.
- Schließlich komme ich zu der Ebene, auf der sich ohne Wenn und Aber ein Rechtsruck zeigt, nämlich die Ebene politischer Repräsentation: In den Parlamenten auf Länder- und Bundesebene hat ein klarer Ruck nach rechts stattgefunden. Mit der AfD scheint sich in der Bundesrepublik zum ersten Mal seit fast 60 Jahren eine Partei parlamentarisch etabliert zu haben, die nicht nur rechts von den (zugegebenermaßen mittlerweile verhältnismäßig liberalen) Unionsparteien sitzt, sondern auch direkt in neurechte und rechtsextreme Milieus verstrickt ist und deren Spitzenpersonal kein Problem damit hat, mit Neonazis durch Chemnitz zu ziehen.
Dieser parlamentarische Rechtsruck hat mittelfristig das Potenzial, alles zuvor Gesagte zu verändern. Parlamentssitze bedeuten nicht nur öffentliche Sichtbarkeit und Legitimität, sie bedeuten auch Repräsentanz in Ausschüssen und Institutionen, Einfluss auf Gesetzgebung und Verwaltung sowie erhebliche materielle Ressourcen inklusive zahlreicher Referent_innenstellen und einer öffentlich finanzierten parteinahen Stiftung. Durch diese Stärkung können die Rechten einen Rechtsruck auf allen anderen Ebenen vorantreiben und die Institutionen unterminieren, die ihm bislang entgegenstehen. Sie können alle Initiativen zur Bekämpfung von institutionellem Rassismus ebenso effektiv torpedieren wie Bildungsprojekte gegen Rechtsextremismus – und in den Ländern, in denen solche Maßnahmen am bittersten notwendig sind, können sie sie am besten torpedieren.
II. Ursachen für den Rechtsruck
Weil sich ein Rechtsruck bis dato am deutlichsten auf der Ebene der politischen Repräsentation zeigt, sollte die Suche nach Ursachen auch bei der politischen Repräsentationsstruktur ansetzen. Damit, dass man die Ursachen für den Aufstieg des Rechtspopulismus in der politischen Repräsentationsstruktur sucht, ist nicht gesagt, dass es beim Rechtspopulismus nicht um Rassismus oder Autoritarismus ginge. Im Gegenteil korreliert nichts so gut mit der Wahlentscheidung für rechte Parteien wie rassistische und autoritäre Einstellungen. Jedoch sind diese Einstellungen wie oben bereits dargelegt heute nicht weiter verbreitet als vor 15 Jahren. Das heißt, damals gab es genauso viele rassistisch und autoritär eingestellte Personen wie heute, aber erst seit kurzem lassen viele von ihnen sich bei der Wahlentscheidung vom Rassismus und Autoritarismus leiten – und eben dies gilt es zu erklären.
Diese politische Repräsentationsstruktur besteht in erster Näherung darin, dass verschiedene soziale Gruppen bestimmte Parteien oder Politiker_innen wählen und sich durch diese repräsentiert fühlen – sei es, weil sie glauben, dass diese ihre partikularen Interessen am besten vertreten, sei es, weil sie glauben, dass diese sich am ehesten für das allgemein Gute und Gerechte einsetzen, oder sei es, wie so oft, eine Mischung aus beidem. Diese Struktur kam in der Bundesrepublik lange Zeit weitgehend ohne eine dezidiert rechte Partei aus, was sich nun geändert zu haben scheint. Das heißt, dass es relevante Gruppen gibt, die glauben, dass ihre Stimme zumindest zeitweise besser bei einer rechten, offen rassistischen Partei aufgehoben ist als bei einer der anderen, und die bereit sind, auch entsprechend zu wählen. In Deutschland sind dies aktuell zwischen 10 und 15 Prozent der Wähler_innen, in anderen Ländern teils erheblich mehr.
Veränderungen in der Repräsentationsstruktur können sich sowohl auf der Nachfrage- als auch auf der Angebotsseite ergeben. Auf der Nachfrageseite geht es darum, welche sozialen Gruppen oder Milieus mit welchen Interessen, Werten und Selbstverständnissen es gibt. Veränderungen treten hier ein, wenn sich die Sozialstruktur transformiert oder sich kulturelle Wertorientierungen verschieben; dann können Milieus, wachsen, schrumpfen, sich verändern, sich teilen, ineinander aufgehen, verschwinden oder neu entstehen. Auf der Angebotsseite geht es darum, welche Parteien und Politiker_innen mit welchen Programmen und Stilen um die Stimmen der Wähler_innen konkurrieren. Hier kann es entweder als Anpassung an die Nachfrageseite oder aus internen Dynamiken zu Veränderungen kommen. Auf beiden Seiten hat es in den letzten Jahrzehnten drastische Verschiebungen gegeben.
Von den zahlreichen Entwicklungen, die sich auf der Nachfrageseite beschreiben ließen, will ich hier drei herausstreichen. Erstens hat sich die bundesrepublikanische Gesellschaft stark ausdifferenziert hat, wobei sowohl die traditionell eher konservativen bäuerlichen Milieus als auch die traditionell eher links wählenden Industriearbeiter_innenmilieus im engen Sinne zahlenmäßig stark zusammengeschrumpft sind. Zweitens ist in Bezug auf die kulturellen Wertorientierungen aller Neobiedermeierei um Manufactum und Landleben zum Trotz eine weitgehende Liberalisierung und Individualisierung festzustellen. Das Recht, ein selbstbestimmtes Leben führen zu können, ohne von traditionellen Autoritäten hereingeredet zu bekommen, gilt weithin als erstrebenswerte Norm. Drittens hat sich die Bundesrepublik in ihren ersten drei Jahrzehnten als „Aufstiegsgesellschaft“ mit „Fahrstuhleffekt“ (Ulrich Beck) präsentiert, in der die besitzenden Klassen hohe Profitraten erzielten, während sich die lohnabhängigen Klassen nicht nur auf steigenden „Wohlstand für alle“ (Ludwig Erhard) verlassen konnten, sondern auch damit rechnen durften, dass jede Generation etwas besser dasteht als die ihrer Eltern. Auch wenn noch einige Zweifel daran angebracht sind, ob wir heute in einer „Abstiegsgesellschaft“ (Oliver Nachtwey) leben, so ist doch von den Versprechungen der Aufstiegsgesellschaft nicht mehr viel übrig. Meine Generation kann sich zwar darüber freuen, bessere Telefone (und Kühlschränke und Waschmaschinen) zu haben als die Generation unserer Eltern; auch dürfen wir dürfen damit rechnen, dass unsere Kinder noch bessere Geräte haben werden als wir. Mit einem weit verbreiteten sozialen Aufstieg geschweige denn einer gesteigerten sozialen Sicherheit ist über die Generationen aber nicht mehr zu rechnen. Im Gegenteil greift Prekarität um sich.
Auf der Angebotsseite sollte man weniger auf die AfD schauen, die nicht dadurch stark geworden ist, dass sie ein besonders innovatives Programm hätte. Vielmehr sollte der Fokus auf die anderen Parteien gelegt werden, wobei vor allem zwei Tendenzen zu beobachten sind. Zum einen besteht insbesondere bei Union und SPD eine Tendenz zur Liberalisierung sowohl in ökonomischen als auch in soziokulturellen Belangen. Wohl in Reaktion auf die nachfrageseitigen Verschiebungen hat sich die Überzeugung durchgesetzt, dass „Wahlen in der Mitte gewonnen“ werden, sodass die SPD unter Gerhard Schröder und die CDU unter Angela Merkel auf ihre je eigene Weise einen Liberalisierungsschub erfuhren. Zum anderen erlebte die Parteienlandschaft seit den 1980ern gerade auf der linken Seite eine deutliche Diversifizierung. Nachdem in den 60ern und 70ern durchweg nur drei Fraktionen in den Bundestag einzogen, kamen zuerst die Grünen und dann die PDS bzw. später die Linkspartei hinzu – letztere konnte sich nicht zuletzt aufgrund der neoliberalen Wende der SPD und durch das Aufnehmen des sozialdemokratischen Spaltprodukts WASG auch gesamtdeutsch fest etablieren.
Diese Verschiebungen haben dazu geführt, dass sich relevante Teile der Bevölkerung nicht (mehr) durch die fünf bis dato präsenten Fraktionen repräsentiert fühlen und offen für rechtspopulistische Mobilisierung sind. Holzschnittartig gesprochen, sind dies insbesondere zwei Gruppen von Wähler_innen: Es geht einerseits um konservative Milieus – teils wohlsituiert, teils weniger –, die sich durch die liberalisierte Union nicht mehr repräsentiert fühlen; es sind andererseits sozial marginalisierte Milieus, die in der Vergangenheit eher sozialdemokratisch gewählt hätten, sich von der SPD aber nicht mehr vertreten fühlen und sich auch in der Linkspartei nicht aufgehoben fühlen. Für den Aufstieg der AfD sind beide Gruppen relevant; für linke Gegenstrategien ist es aber in erster Linie die letztere. Wer ein Jahreseinkommen von 50.000 € bezieht, Haus und SUV besitzt, sich immer noch zu kurz gekommen fühlt, „gegen Ausländer“ sowie „gegen Merkel“ ist und deshalb AfD wählt, ist mein politischer Gegner. Ob und wie er politisch repräsentiert wird, mag die Unionsparteien kümmern, ich finde das nicht sonderlich relevant – ob solche Leute nun durch eine rechte Partei vertreten werden oder durch eine konservative Partei die dafür nach rechts rückt, ist nicht folgenlos, aber keine Frage, die mir großes Kopfzerbrechen bereitet. Bei den sozial marginalisierten und von der SPD abgestoßenen Milieus sieht dies anders aus: auch wenn rassistische Einstellungen hier verbreitet sind, ist das Vertreten ihrer Interessen (wenn auch gerade nicht der rassistischen) eine ureigene Aufgabe der Linken, die diese anzunehmen hat.
Die Hinwendung relevanter Bevölkerungsteile zu einer dezidiert rechten Mobilisierung wird durch das oben erwähnte Ende der Aufstiegsgesellschaft begünstigt. Wie Cornelia Koppetsch darlegt begünstigt der allgemeine Eindruck von gesellschaftlichem Fortschritt eher linke Einstellungen, die auf die Verbesserung der Lebensverhältnisse aller zielen; der allgemeine Eindruck von sozialer Stagnation oder gar Regression begünstigt dagegen eher rechte Einstellungen, die das erreichte für die eigene Gruppe bewahren und gegen vermeintlich gefährliche andere verteidigen wollen. Zu ganz ähnlichen Ergebnissen kommt auch Arlie Hochschild bei ihrer Ethnographie rechter Tea-Party-Aktivist_innen in den USA.
Eben hier setzt das „exkludierend solidarische“ Politikangebot des Rechtspopulismus an. Dieses Angebot besteht zunächst in der Möglichkeit „gegen Ausländer“ zu sein und zu wählen und so die imaginierte eigene Gemeinschaft zu schützen. Einige rechtspopulistische Parteien – allen voran der in Rassemblement National umbenannte Front National in Frankreich – gehen noch weiter und fordern dezidiert einen ökonomisch starken und umverteilenden Staat für das eigene Volk, der gegen die Ansprüche von anderen verteidigt werden soll. Ob auch die AfD diesen Weg geht, bleibt abzuwarten.
So betrachtet erscheinen die ökonomische Krise 2008ff. und der Sommer der Migration 2015, die oft als Ursachen für den Aufstieg der AfD genannt werden, eher als Katalysatoren. Es ist wahrscheinlich, dass es ohne sie immer noch keine rechte Partei mit solchem Erfolg in Deutschland gäbe. Die Basis für den Erfolg gab es aber (ebenso wie in anderen Ländern) ohnehin, sie wurde durch diese beiden Krisen nur aktiviert.
III. Strategien gegen den Rechtsruck
Wenn sich der Rechtsruck bislang vor allem auf der Ebene politischer Repräsentation abspielt und sich die Ursachen in der Repräsentationsstruktur finden, sollten Gegenstrategien auch hier ansetzen. Da die genannten Ursachen aber von großer Tragweite sind, lassen sie sich kaum einfach abstellen. Ein Rückgängigmachen von gesellschaftlicher Ausdifferenzierung geschweige denn von der Liberalisierung und Individualisierung der Wertorientierungen scheint nicht ohne weiteres wünschenswert; eine Wiedereinführung einer „Aufstiegsgesellschaft“, in der sich der „Wohlstand aller“ beständig steigert, wäre wohl ganz unabhängig vom Rechtspopulismus ein erstrebenswertes Ziel (zumindest sofern dies nachhaltig und ohne die Ausbeutung anderer Länder möglich wäre). Aber wie dies zu erreichen sein sollte, ist ganz unklar. Eine Wiederherstellung des Nachkriegskapitalismus mit hohen Profit- und steigenden Umverteilungsraten scheint ebenso wenig in Reichweite wie eine Überwindung des Kapitalismus.
Die Tendenz zur Liberalisierung und Zentrierung der (ehemals) großen Parteien auf der Angebotsseite ist zwar eher reversibel, aber auch nicht ohne weiteres zu erwarten. Ein Nach-rechts-Rücken der Union und ein Nach-links-Rücken der Sozialdemokratie könnten unter Umständen Teile des rechtspopulistischen Wählerpotenzials aufsaugen. Ob sich damit aber in Deutschland Wahlen gewinnen lassen, ist eine andere Frage, weil damit stets auch ein Verlust liberal eingestellter Wähler_innen einhergehen dürfte, über die sich dann die Grünen und die FDP freuen dürfen – in den Zweiparteiensystemen der USA und Großbritanniens scheint das Nach-links-Rücken der Mitte-links-Parteien jedoch einigermaßen erfolgversprechend zu sein.
Die beste politische Strategie scheint mir darin zu liegen, die richtigen Themen für politische Mobilisierung zu suchen – nämlich solche Themen, zu denen die AfD nichts zu sagen hat und die ihre soziale Basis spalten. Hier scheinen die aktuellen Initiativen, die sich rund um das Thema Wohnungsmarktpolitik tatsächlich trauen, öffentlichkeitswirksam Eigentumsfragen zu stellen, genau richtig. Ich bezweifele zwar, dass eine sich wieder nach links wendende SPD zu ihrer alten Stärke zurückfinden könnte – zu ausdifferenziert und aufgezehrt sind einstmals sozialdemokratische Milieus, zu etabliert sind Linkspartei und Grüne. Aber entsprechende Initiativen aus der Gesellschaft, die von den Parteien aufgegriffen werden, können doch eine neue Dynamik ins politische Feld bringen und dazu führen, dass die Thematisierung derjenigen Felder, die rechtspopulistische Mobilisierung begünstigen – Migration und Islam – nach Jahren wieder auf ein angemessenes Maß zurechtschrumpft.
Wie es der Zufall wollte, schaltete ich am Abend nach der Podiumsdiskussion im Hotel aus Versehen den Fernseher an (ich wollte ihn eigentlich aus dem Standby-Modus ganz ausschalten, um das rote Licht loszuwerden, aber das funktioniert bei vielen Hotel-Fernsehern gar nicht mehr) und es lief eine Talk-Show, nämlich Maischberger mit dem Titel Attacke auf die Reichen, in der es sowohl um Enteignungen als auch um Steuererhöhungen für Besserverdienende ging. Tatsächlich war es das erste Mal seit Jahren, dass ich bei einer Talkshow nicht nach zwei Redebeiträgen angewidert ausschaltete. Zu schön war es zu sehen, wie sich die Vertreter_innen des Neoliberalismus in der Defensive befanden. Diese Sendung war ein gutes Beispiel dafür, wie Linke wieder die politische Initiative erlangen können, anstatt immer nur reaktiv auf rechte Offensiven zu reagieren.
Damit solche Strategien langfristig erfolgreich sein können, müssten sie freilich auch mit der Entwicklung eines politisch-ökonomischen Programms einhergehen, von dem sich weite Teile der Bevölkerung tatsächlich eine Besserung ihrer Situation erhoffen dürfen – sonst kann man höchstens eine Wahl gewinnen.
Mit diesem Fokus auf politische Initiativen auf anderen Feldern ist nichts gegen die Richtigkeit und Wichtigkeit von expliziter Bildungsarbeit gegen rechts oder antirassistischen Initiativen gesagt: Es ist entscheidend, dass rassistischen und autoritären Einstellungen im Kleinen ebenso entgegengewirkt wird wie rassistischen Strukturen und Institutionen. Ebenso bleibt es wichtig, darüber nachzudenken, wie im alltäglichen und öffentlichen Diskurs auf rechte Offensiven zu reagieren ist und was gegen rechtsextreme Strukturen sowie rechte und rassistische Gewalt zu unternehmen ist. All diese Arbeit bleibt unersetzlich: es handelt sich um Daueraufgaben gegen rechts, die das Ausgreifen des bislang primär parlamentarischen Rechtsrucks auf andere Sphären erschweren können und die die Gesellschaft den marginalisierten Minderheiten schuldet.
Das Handeln gegen den Rechtsruck muss auf vielen Ebenen, mit vielen Mitteln stattfinden.