Im Oktober 2018 erregte Alexander Gauland mit einem in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung veröffentlichten Aufsatz über Populismus einige Aufmerksamkeit – insbesondere, weil bald das Gerücht die Runde machte, er habe darin eine Rede Adolf Hitlers plagiiert. Dieser Verdacht ging vor allem auf eine starke Ähnlichkeit in der Argumentationsstruktur zurück: In beiden Texten wurden in durchaus ähnlichen Formulierungen örtlich verwurzelte Teile des Volkes gegen eine wurzel- und ortlose Minderheit ausgespielt, die überall und nirgends zu Hause sei. Weil sich solche Figurationen seit Jahrhunderten bei diversen rechten und konservativen Ideolog_innen finden, lässt sich auf dieser Basis freilich kein Plagiatsvorwurf aufrechterhalten – darüber, ob Gauland Hitler bewusst paraphrasierte oder ob es sich bei den Ähnlichkeiten um ein eher zufälliges Produkt handelt, das auf ideologischen Parallelen beruht, lässt sich nur spekulieren. Analoges gilt für die gut 40-minütige Rede, die Gauland am 19. Januar beim neurechten Institut für Staatspolitik in Schnellroda hielt und in der er die Argumentation aus dem faz-Artikel weiter ausbreitet.
Wenn man sich aber auf solche Argumente ad hitlerem begrenzt, übersieht man viele instruktive Aspekte von Gaulands Beiträgen. Daher schlage ich im Folgenden vor, seine Rede auf drei Weisen zu lesen: erstens als schlechte Soziologie und Politikwissenschaft, die zu widerlegen ist; zweitens als rechte Ideologie, die als solche auszuweisen ist; und drittens als strategische Herausforderung, auf die zu reagieren ist.
Inhalt
I Gaulands schlechte Soziologie des Populismus
1 Gaulands Populismustheorie
Zu Beginn der Rede steht eine Auseinandersetzung mit dem Populismusbegriff, die sichtlich durch vier in Spannung zueinander stehende Ansprüche geprägt ist. Erstens will Gauland einen analytisch brauchbaren Begriff von Populismus herausarbeiten, anhand dessen bestimmte Formen der politischen Mobilisierung als populistisch ausgewiesen werden können; zweitens betätigt er sich als rechter Stratege, der diskutieren will, ob populistische Politik für die Rechte derzeit eine plausible strategische Option ist; drittens muss Gauland sich dazu verhalten, dass der Begriff in der politischen Alltagssprache ein relativ unbestimmter, meist pejorativ gebrauchter Kampfbegriff ist; viertens schließlich spricht er als Vorsitzender einer vom Verfassungsschutz als Prüf-Fall eingestuften populistischen Partei und muss – weil er den Begriff nicht zurückweisen möchte – eine Definition wählen, die zum Selbstverständnis der Partei passt, ohne diese allzu sehr ins normative Abseits zu stellen.
Durch diese widerstreitenden Ansprüche navigiert Gauland, indem er Populismusbegriff für die AfD offensiv reklamiert, ihn dabei aber so definiert, dass einige der kontroversesten Attribute außen vor bleiben und Populismus als etwas Wünschenswertes und Demokratisches erscheint. Insbesondere weist er in der Rede immer und immer wieder die in vielen wissenschaftlichen Definitionen von Populismus als definitorisches Kriterium geltende These zurück, populistische Politik erhebe den Anspruch, für das ganze Volk zu sprechen. Dieser Anspruch führt in der liberalen Populismuskritik in Anschluss an Jan-Werner Müller zum Vorwurf, Populismus sei per se antipluralistisch und antidemokratisch (was ich selbst für falsch halte). Gauland betont mehrfach, die AfD sei populistisch habe aber keinesfalls den Anspruch, das Volk als Ganzes zu vertreten; vielmehr sei ihr Populismus dadurch bestimmt, dass er populäre Klassen gegen die Eliten repräsentiere. „Die Kürzeste Definition des aktuellen Populismus lautet in der Tat: gegen das Establishment“ (35:20). So erscheint Populismus gerade nicht als antidemokratischer Antipluralismus, sondern kollektive demokratische Notwehr gegen antidemokratische Eliten.
Jedoch sollte man Gaulands Bekenntnis zur populistischen Repräsentation der populären Klassen – und somit sein Bekenntnis zur Demokratie – in erster Linie als strategische Entscheidung lesen. So betont er zum Ende seiner Rede unter Applaus des neurechten Publikums:
„Das elementare Bedürfnis eines Volkes besteht darin, sich im Dasein zu erhalten. Das ist im Grunde unser Parteiprogramm in einem Satz. Es geht uns einzig um die Erhaltung unserer Art zu leben. (Applaus). Das zentrale politische Zukunftsthema lautet Identität.“ (40:40)
Das einzige (!), was er und die im „Wir“ Eingeschlossenen – womöglich die AfD, womöglich das Schnellrodaer Publikum, womöglich beide – wollen, ist also eine klassisch konservative und rechte Agenda: die Erhaltung von Tradition und Identität um ihrer selbst willen. Die Mobilisierung populärer Klassen, Populismus und Demokratie, erscheinen dann als gegenwärtig nützliche Größen, aber nicht als Werte an sich. Es passt sehr gut, dass Björn Höcke gerade dieser Satz so gut gefiel, dass er ein Facebook-Sharepic daraus machte:
Der Glaube an den Nutzen dieser Strategie ergibt sich aus seinem Verständnis der den populistischen Erfolgen zugrundeliegenden Konfliktlinien und Transformationsprozesse.
2 Cleavage-Theorie und Postdemokratie
Für diese Analysen nimmt Gauland wiederum zwei gängige Konzepte aus der sozialwissenschaftlichen Literatur über Populismus auf, nämlich das Theorem eines neuen Cleavage und die Postdemokratiethese (wobei er keines der beiden Worte benutzt).
Der Begriff von politischen Cleavages oder Spaltungslinien geht auf Seymour Martin Lipset und Stein Rokkan zurück, die 1967 ein Modell einführten, demzufolge das politische Feld in modernen Gesellschaften durch vier Cleavages oder Spaltungslinien geprägt sei, entlang derer politische Mobilisierung stattfinden könne: Arbeit/Kapital, Kirche/Staat, Stadt/Land und Zentrum/Peripherie. In den folgenden Jahrzehnten haben immer wieder Autoren argumentiert, sie hätten eine oder mehrere neue Cleavages entdeckt – und dies geschieht auch in Hinblick auf den jüngsten Aufstieg des Populismus sehr häufig.
Gauland nimmt diese These vom britischen Publizisten David Goodhart (anywheres gegen somewheres), fast ebenso gut hätte er sie aber von Ronald Inglehard und Pippa Norris (liberaler Kosmopolitismus gegen populistischen Kommunitarismus) oder von Andreas Reckwitz (Hyperkultur gegen Kulturessenzialismus) übernehmen können. All diese Autor_innen gehen davon aus, dass die sozioökonomischen und soziokulturellen Transformationen der letzten Jahrzehnte eine neue Art von sozialer Differenz hervorgebracht hätten, die quer zu den bekannten Spaltungslinien liege – und auch quer zur Links-Rechts-Spaltung. Auf der einen Seite stünden Gruppen, die Globalisierung als Gewinn erlebten und den damit einhergehenden gesellschaftlichen Öffnungsprozessen offen gegenüberstünden, auf der anderen Seite Gruppen, die sich von der Globalisierung bedrängt fühlten und an Vorstellungen von nationaler Tradition und Gemeinschaft festhielten. Goodhart – und im Anschluss an ihn auch Gauland – spricht von den kosmopolitischen anywheres und den ortsgebundenen somewheres.
Der Erfolg des Populismus ist diesem Ansatz zufolge zum einen darauf zurückzuführen, dass diese Konfliktlinie politisch immer bedeutsamer würde, zum anderen darauf, dass die etablierten Parteien fast ausschließlich die Position der anywheres verträten, so dass die populistischen Akteur_innen für sich reklamieren könnten, als einzige die Interessen der somewheres zu vertreten.
Dies verweist auf die Postdemokratiethese. Der Begriff der Postdemokratie wurde von Colin Crouch geprägt, die damit bezeichneten Transformationen aber von vielen verschiedenen Autor_innen beschrieben. Damit wird ein Prozess kritisiert, in dem die Institutionen der liberalen Demokratie zwar formal fortbestünden, sie aber zugleich ausgehöhlt würden, sodass sie ihre demokratische Funktion nicht mehr erfüllen könnten. Durch die Schwächung von Gewerkschaften, durch Technokratisierung, Expertokratisierung, Europäisierung, Globalisierung usw. schwinde der reale Einfluss, den die Bevölkerungen auf ihre Lebensverhältnisse nehmen könnten, immer weiter, weshalb es nur konsequent sei, dass auch ihr Interesse an Parteipolitik und die Wahlbeteiligung ebenfalls zurückgingen. Gauland interessiert sich freilich weitaus weniger für den Bedeutungsschwund von Gewerkschaften als die linke Kritik es tut; weitaus mehr als der linken Kritik ist ihm nationale Souveränität ein Wert an sich; dennoch kommt er zu einer ähnlichen Zeitdiagnose, dass nämlich Globalisierungsprozesse die demokratischen Institutionen unterminieren. Wie Wolfgang Streeck deutet auch Gauland diesen Prozess als die einseitige Aufkündigung eines impliziten Gesellschaftsvertrages zwischen Eliten und Volk. Weil die Eliten diesen Vertrag nicht mehr einhielten, sei ein populärer Hass auf die Eliten und somit populistische Politik fast unvermeidlich.
3 Vereinfachung und Ideologisierung
Sowohl Gaulands Verwendung des Populismusbegriffs als auch seine Analyse der Ursachen populistischer Erfolge sind somit an aktuelle sozialwissenschaftliche Literatur anknüpfungsfähig. Nähme man seine Rede aber als soziologische und politikwissenschaftliche Analyse ernst, fiele sie glatt durch. Dies liegt vor allem, dass er über jedes legitime Maß hinaus vereinfacht, homogenisiert und zuspitzt. Solche Tendenzen sind einigen der zitierten Autor_innen freilich alles andere als fremd, bei Gauland hat das Problem ein völlig anderes Ausmaß.
Das wird insbesondere daran deutlich, wie zugespitzt er den Gegensatz zwischen somewheres und anywheres darstellt. Nähme man die Cleavage-Theorie ernst, könnte man zwar eine solche Differenz konstatieren, aber daraus keinesfalls folgern, dass dabei zwei Identitäten einander gegenüberstehen. Vielmehr müsste man davon ausgehen, dass quer zu dieser Spaltungslinie, andere Konfliktlinien verlaufen, die das soziale und politische Feld ebenfalls strukturieren und sehr heterogen werden lassen. Von einem solchen Bewusstsein für Heterogenität auf beiden Seiten der Spaltungslinie finden sich bei Gauland allenfalls Spuren.
Er zählt zwar auf, dass sich auf beiden Seiten durchaus unterschiedliche Gruppen fänden: Bei den somewheres bzw. bei der AfD handele es sich um
„eine Sammlungsbewegung aus zwei Parteien. Zum einen ist es die bürgerliche Mittelschicht, zu der auch der wirtschaftliche Mittelstand, das ökonomische Rückgrat unseres Landes gehört, der nicht einfach sein Unternehmen nach Indien verlagern kann […], um dort besonders billig zu produzieren. Auf der anderen Seite sind es viele so genannte einfache Menschen, deren Jobs entweder miserabel bezahlt werden oder nicht mehr existieren, die ein Leben lang den Buckel krumm gemacht haben und heute von einer schäbigen Rente leben müssen“ (25:40).
Bei den anywheres dagegen handele es sich um
„Menschen aus der Wirtschaft, der Politik, dem Unterhaltungs- und Kulturbetrieb und vor allem die neue Spezies der digitalen Informationsarbeiter; sie sitzen in den international agierenden Unternehmen, in Organisationen wie der UNO, in Medien, Start-Ups, Universitäten, NGOs, Stiftungen, in Parteien und ihren Apparaten“ (17:30).
Jedoch erwähnt Gauland mit keinem Wort, dass auf beiden Seiten auch innere Interessenkonflikte bestehen. Vielmehr schreibt er über den Widerstreit zwischen beiden Gruppen, als sei es der einzige Konflikt unserer Zeit – und als sei dieser so schicksalhaft, dass er zwingend zu einem „Krieg“ führen müsse, wie er zum Ende mit Botho Strauß orakelt. Alle politischen Fragen und Konflikte der letzten Jahre sind für Gauland nur einzelne Manifestationen dieses einen alles strukturierenden Konflikts.
Gauland beschreibt einen Interessenkonflikt zwischen mobilen und immobilen Milieus und deutet diesen zugleich zu einem Konflikt zwischen unten und oben um – wobei der mittelständische Unternehmer unten, die in der Flüchtlingshilfe arbeitende Sozialarbeiterin oben steht. Ohne die Komplikationen einer echten Klassenanalyse auf sich nehmen zu müssen, inszeniert Gauland die Politik der AfD als klassenkämpferische Notwehr gegen “die da oben”.
Diese Überspitzungen machen deutlich, dass Gauland die Differenz zwischen somewheres und anywheres nicht nur beschreibt, sondern herbeischreibt und so groß wie irgend möglich erscheinen lässt.
Ebenso wie die These von einer neuen Spaltungslinie überspitzt Gauland auch die Postdemokratiethese bis ins Unhaltbare, indem er „die Eliten“ der anywheres pauschal als „Autokraten“ bezeichnet, die selbstverliebt die Demokratie abschaffen wollten – sodass er selbst und seine Partei als lupenreine Demokrat_innen erscheinen, die in Notwehr handeln.
II Gaulands rechte Ideologie gegen “Globalismus”
4 Historische Kontinuitäten: Das gute verwurzelte Volk gegen wurzellose Eliten und unproduktive Migranten
Der ideologische Charakter von Gaulands Rede erschöpft sich jedoch keinesfalls in der Überspitzung; viel wichtiger ist der ideologische Gehalt, wie er sich in dem Bild zeigt, das Gauland dabei von Gesellschaft zeichnet. Dieses steht in starker Kontinuität zu rechten Ideologien der Vergangenheit – inklusive der Hitler-Rede, mit der sein kürzerer faz-Beitrag verglichen wurde.
Erahnen lässt sich dies schon anhand der wenigen Stellen, an denen Gauland Andeutungen für ein positives Programm macht. Dann raunt er stets von Tradition, Identität, Heimat und Bindung – allesamt klassische Ideologeme des Konservatismus, der politischen Romantik und der europäischen Rechten. So spricht er von den populistischen somewheres als einer „Allianz der nationalen Arbeiter und des nationalen Bürgertums“. Dies seien
„diejenigen, denen Heimat etwas bedeutet, weil sie dort ihr Haus oder ihr Unternehmen haben und dieses auch nicht einfach verlagern können, weil ihre Familie und ihre Freunde dort leben, weil dort die Kirche steht, in der sie getauft wurden oder geheiratet haben, weil dort der Friedhof ist, auf dem ihre Vorfahren liegen, weil dort ihre Sprache gesprochen wird und ihre Traditionen gepflegt werden, weil sie dort einfach, wie heißt es so schön, ‚gut und gerne leben wollen‘ (Applaus)“ (24:10). [1]
Deutlicher wird der ideologische Gehalt noch bei der Schilderung der anywhere-Eliten, die einen großen Teil der Rede ausmachen. An den meisten Stellen beschreibt er diese als globale Manager-Klasse – dies tut er zunächst ausführlich durch Zitate von Ralf Dahrendorf, später auch frei. Diese relativ kleine Wirtschaftselite und ihre Interessen an Deregulierung und Steuersenkung setzt er dann ohne größere Differenzierung in eins mit den anywheres schlechthin, deren Bevölkerungsanteil er mit Goodhart auf immerhin 25 % schätzt und die alle möglichen linken und liberalen Milieus umfasst. So imaginiert er eine Einheit von „globalistischer Linker und globalem Kapital“ (19:59). Die nationalsozialistische Fantasie einer Einheit von Kapital und Kommunismus ist nicht fern. Damit bewegt er sich deutlich in antisemitischer Tradition – dies gilt auch, wenn Gauland es tunlichst vermeidet, den antisemitischen Chiffren je explizit jüdische Objekte zuzuordnen, er also bei einem strukturell antisemitischen Argument ohne antjüdische Referenz verbleibt.
Weitere klassische antisemitische Stereotypen greift er auf, indem er die anywheres insgesamt als unproduktive Klasse darstellt, die primär am finanziellem Zugewinn durch Ausbeutung der tüchtigen somewheres interessiert sei. Er stellt explizit eine Parallele her zwischen den Großbankern, deren Unternehmen in der Finanzkrise mit Steuergeldern „gerettet“ wurden, und denjenigen, die in der Flüchtlingshilfe tätig sind: auch diese hätten auf Kosten der somewheres partikulare Politik betrieben, um sich dann von Steuergeldern finanzieren zu lassen. Sozialarbeiter_in und Investmentbanker_in verschmelzen zur unproduktiven globalistischen Ausbeuterklasse.
Die antisemitische Bildsprache geht damit weiter, dass Gauland die anywheres nicht nur als ortlos, sondern zugleich als geschlossene „Parallelgesellschaft“ imaginiert, die „sozial nahezu abgeschottet, aber kulturell sehr offen“ (18:55) sei. Die angehörigen dieser „globalen Klasse“ würden ihre Kinder Gauland zufolge nie in öffentliche Schulen mit hohem Anteil an Postmigrant_innen schicken – als ob sich 25 % der Familien Privatbeschulung leisten könnten. Reale Prozesse der sozialen Schließung, die sich auch im Bildungssektor finden, werden so ideologisiert.
Ergänzt werden diese antisemitischen Figurationen durch verschwörungstheoretische Thesen in unterschiedlichen Graden der Offenheit. Wenn Gauland davon spricht, dass „die meisten Journalisten und vor allem deren Arbeitgeber“ (6:59) nicht zu den Populisten zählten, sondern auf der anderen Seite stünden, könnte man sich unter „Arbeitgebern“ noch recht harmlos die Verlage vorstellen – das Publikum ist aber auch eingeladen, sich in der Fantasie bestätigt zu fühlen, hinter der Presse stünde eine Verschwörung mit ganz anderen “Arbeitgebern”.
Deutlicher wird es, wenn Gauland über Migration spricht. Darin, dass die Vorsitzenden großer Konzerne Migration befürworten, will Gauland dementsprechend auch nicht das rationale Interesse sehen, mehr Arbeitskräfte zur Verfügung zu haben und damit gegebenenfalls Lücken zu füllen oder Löhne zu drücken. Vielmehr geht er davon aus, dass die Migrant_innen ohnehin nicht produktiv seien, so dass er andere, aber ungenannte andere Gründe insinuiert. An anderer Stelle wird er deutlicher. Migration sei die Schlüsselfrage unserer Zeit und das Ziel sei die Abschaffung der Völker – ein typisches Topos der extremen Rechten.
„Da die Völker unwillig sind, den grauen Tod der Diversity zu sterben, haben die Globalisten den Migranten als neues revolutionäres Subjekt entdeckt. Die ganze Panik um den angeblich menschengemachten Klimawandel ist bloß der Begleitlärm. Ebenso wie die ständig frisch und eiternd gehaltene Schuld der weißen Männer im Allgemeinen und der Deutschen im Besonderen. Die Gretchenfrage unserer Epoche lautet deshalb: Wie hast Du’s mit der Migration. Hier scheiden sich die Geister. Und wenn Sie mich fragen, hier entscheidet sich das Schicksal der europäischen Zivilisation.“ (38:00)
Demnach wollen „die Globalisten“ die Abschaffung der Völker und benutzen Migration zu diesem Zwecke – warum sie die Völker abschaffen wollen, bleibt unklar, aber Gauland behauptet es.
In klassischer Verschwörungstheoretikermanier glaubt Gauland dann auch in einem Tagesthemen-Interview mit dem Politikwissenschaftler Yasha Mounk einen Beweis dafür entdeckt zu haben, dass es einen geheimen Masterplan gäbe, in dem „das deutsche Volk […] durch eine multiethnische Gesellschaft ersetzt“ werde und
„der Populismus die letzte Verteidigungslinie unserer Art zu leben ist. Wenn die Globalisten sich durchsetzen, werden viele Dinge verschwinden und nie wiederkommen, die unser Land und unseren Erdteil lebenswert machen.“
Dass Mounk sich mit seiner Formulierung, es gebe das „Experiment“, eine monoethnische Demokratie durch eine multiethnische zu ersetzen, alles andere als glücklich ausgedrückt hat, ist eine Sache. Dass er damit einen geheimen Plan ausgesprochen hat, glaubt aber nur, wer es – wie Gauland – unbedingt glauben will.
Gaulands Rede steht somit in deutlicher historischer Kontinuität zu den rechten Ideologien des 19. und 20. Jahrhunderts und zu rechtsextremen Verschwörungstheorien der Gegenwart – alles andere wäre in Schnellroda wohl auch fehl am Platz gewesen.
5 Der rhetorische Bruch mit dem Konservatismus: Demokratie und Führung
Erwähnenswert ist jedoch auch, dass Gauland in einigen zentralen Punkten mit der konservativen Tradition bricht, nämlich in seinem Bekenntnis zur Demokratie, die er gegen die vermeintliche Autokratie der anywhere-Eliten setzt:
„Das immerhin unterscheidet die Populisten vom Establishment: Wir wollen nicht über Köpfe des Volkes hinweg entscheiden. Wir halten uns nicht für klüger als das Volk. Wir haben keine Angst vor dem Volk.“
Jedoch ist eine Kernthese des europäischen Konservatismus, dass die Menschen geführt werden und der Demokratie entsprechend Grenzen gesetzt werden müssten. Auch der von Gauland in der Rede wohlwollend zitierte Arnold Gehlen vertrat entschieden die These, dass das „Mängelwesen Mensch“ der herrschaftlichen Kontrolle bedürfe – 1940 glaubte er, solche Kontrolle müsse durch die „obersten Führungssysteme“ erfolgen, später sprach er in diesem Zusammenhang lieber etwas abstrakter von „Institutionen“.
Der Bruch mit diesem offenen Elitismus und das Bekenntnis zur Demokratie sowie zur Weisheit des Volkes bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung anderer Elemente der Tradition rechten Denkens ist für den Rechtspopulismus der Gegenwart geradezu definierend.
Freilich ist auch das Volkstümelnde und die Polemik gegen abgehobene Eliten keine Innovation im rechten Denken. Und wie Carl Schmitt zeigt, stehen ein gleichzeitiges Bekenntnis zu Demokratie und dem Führerstaat nicht im Widerspruch, wenn man zu den entsprechenden theoretischen Übungen willens ist. Aber die Gewichtung in Gaulands Rede bleibt bemerkenswert.
Zumindest in Teilen ist seine Abwendung von „den Eliten“ als Reaktion auf einen erlebten Verrat zu lesen. So führt er aus, dass die wirtschaftlichen Eliten zur Zeit des Ost-West-Konflikts noch die Werte „Nation, Herkunft, Tradition, Familie“ (17:05) gebraucht hätten, um der kommunistischen Herausforderung zu begegnen. Nach 1989 habe man diese Werte nicht mehr gebraucht und fallengelassen – zur Kränkung Gaulands?
Wie oben dargelegt scheint die Hinwendung zur Demokratie zudem strategisch zu sein – sie wird vollzogen, weil sie dem Primärziel, nämlich der Erhaltung von Identität und Tradition, dient. Als weiteren Hinweis auf diese Unaufrichtigkeit könnte man auch einen Versprecher deuten. Nachdem er ein Zitat Robert Menasses aufspießt, in dem dieser die Abschaffung nationaler demokratischer Institutionen fordert, ruft Gauland scherzhaft nach dem Verfassungsschutz. Dann folgen diese Worte:
„Wenn ich so etwas offen…öffentlich vortrüge oder die beiden Herren hier unten, würden die Medien geschlossen nach dem Verfassungsschutz rufen.“
Ist das Wort „offen“, das sich da anscheinend entgegen dem Manuskript an die Stelle von „öffentlich“ setzen wollte, ein versehentliches Bekenntnis, dass Gauland es mit der Demokratie selbst nicht so ernst ist?
III Gaulands politische Herausforderung
6 Ideologie und Strategie
Wenn man Gauland auf Grundlage seiner Rede als schlechten Soziologen und rechten Ideologen erkennt, hat man immer noch nicht viel erreicht. Viel wichtiger ist es, ihn auch als Strategen zu verstehen, der mit der Rede Politik macht und seine Kameraden überzeugen will, ihn bei dieser Politik zu unterstützen.
Dass er die Bedeutung der Konfliktlinie zwischen somewheres und anywheres ebenso überzeichnet wie das Ausmaß der Postdemokratie als Autokratie, ist nicht nur eine ideologische bedingte soziologische Fehlleistung. Es ist auch politische Strategie.
Tatsächlich hat Gauland richtig erkannt, dass die Erfolgschancen rechtspopulistischer Politik umso größer werden, je stärker das politische Feld entlang dieser Spaltungslinie strukturiert ist. Daher ist es empirisch falsch, aber aus seiner Position strategisch richtig, die Bedeutung dieser Spaltungslinie so hoch einzuschätzen und alle anderen Interessenkonflikte verschwinden zu lassen. Ebenso ist es empirisch falsch, aber strategisch richtig, die anywheres als homogene antidemokratische, wurzellose und unproduktive Elite darzustellen, vor der die somewheres sich nur durch Rechtspopulismus schützen können. Genau diese Art, Konflikte zu framen, macht die populistische Rechte stark.
Es ist wichtig, diese Darstellungen als Fehldarstellungen zu kritisieren. Eine Gegenstrategie ist das aber noch nicht – denn die Wirksamkeit von Ideologie ist durch ihre sachliche Widerlegung nicht aufzuheben.
7 Ein anderer Kampf
Als Gegenstrategie könnte man Gaulands Herausforderung direkt annehmen und entlang der von ihm aufgemachten Konfliktlinie liberal gegenmobilisieren. Man könnte gute normative und pragmatische Gründe für gesellschaftliche Offenheit, für Kosmopolitismus und Migration finden und diese gegen Gaulands Heimatkitsch setzen. Und damit hätte man sicher auch einigen Erfolg. Nicht zufällig erlebten Die Grünen, die (nicht nur Gauland zufolge) in diesem Konflikt den Gegenpol zum Rechtspopulismus bilden, in den letzten Jahren einen rasanten Aufstieg und liegen in Umfragen mittlerweile deutlich vor der AfD. „Wir sind mehr“ – ja, sind wir wirklich. Eine Mehrheit wird die AfD auf absehbare Zeit nicht erlangen. Dennoch würde eine solche Strategie, die progressiven Kosmopolitismus gegen reaktionären Kommunitarismus setzt, die AfD bestmöglich unterstützen – denn dies ist der Kampf in dem sie sich wohlfühlt und mobilisieren kann.
Nicht viel mehr zu holen gäbe es mit einer zweiten Gegenstrategie, mit der man versucht, den Konflikt zwischen somewheres und anywheres von links zu politisieren und die somewheres mit einem linken Framing gegen anywheres zu mobilisieren. Dieser Versuch, für den in Deutschland am ehesten die Aufstehen!-Bewegung um die von Gauland gelobte Sahra Wagenknecht steht, scheint in dreifacher Hinsicht zum Scheitern verurteilt: Erstens wird man damit bestenfalls Teile der AfD-Wähler_innen abgreifen können, weil andere sich explizit mit deren rechten Programm identifizieren; zweitens wird man damit selbst im Erfolgsfall nur eine relativ kleine Basis haben, weil die so zu mobilisierenden Milieus (zumindest in Deutschland, zumindest auf absehbare Zeit) sehr begrenzt sind und man viele andere, die für progressive Politik offen wären, unnötig gegen sich stellt; drittens: selbst wenn man Erfolg hätte, wäre eine dezidierte Mobilisierung von somewheres gegen anywheres nur um den Preis zu haben, dass man in vieler Hinsicht reaktionäre Positionen vertritt.
Auch ein Weg zurück in die Vertretung klassischer Arbeiter_innenmilieus und ihrer Interesse ist nur bedingt erfolgversprechend – diese sind mittlerweile so weit geschrumpft, dass sich damit kaum mehr Wahlen gewinnen lassen.
Die Gegenstrategie muss daher darin liegen andere politische Spaltungslinien als die zwischen somewheres und anywheres von zu politisieren – Spaltungslinien, die quer durch die prekäre Koalition, auf der der Erfolg der AfD beruht, verlaufen und diese zerreißen, wenn sie politisch bedeutsam werden.
Anmerkungen
[1] Interessanterweise versteht Gauland diejenigen, die in die Kirche gehen, als somewheres, rechnet die Kirchen als Institutionen (wegen ihrer Positionierung zu Fluchtmigration) aber den anywheres zu.