Nachdem Uwe Tellkamp sich erst hetzerisch in Sachen Migrationspolitik äußerte und kurze Zeit darauf die entsprechend ausgerichtete „Erklärung 2018“ unterzeichnete, steht er im Zentrum einer aufgeregten öffentlichen Debatte. Am erregtesten und irrationalsten treten dabei ironischerweise diejenigen auf, die eine angebliche „Hysterie“ in den Reaktionen auf Tellkamps Äußerungen monieren.
Auch ich wünschte, Äußerungen wie die von Tellkamp würden nüchterner aufgenommen. Wenn es nach mir ginge und wir in einer von Uwe Tellkamp abgesehen idealen Welt lebten, hätten die Reaktionen sich auf eine kurze Randnotiz in der Dresdner Morgenpost beschränken können:
Autor redet sich um Kopf und Kragen
Für peinliche Berührtheit sorgte am gestrigen Abend der Autor Uwe Tellkamp, der zwischen 2000 und 2010 eine Reihe teils vielbeachteter Romane und Erzählbände veröffentlicht hatte. Der Dresdener, der 2017 mit „Die Carus-Sachen“ einen weitgehend erfolglosen Comeback-Versuch unternommen hatte, äußerte sich in einer Diskussion mit Durs Grünbein im Kulturpalast unter anderem zur deutschen Migrationspolitik. Spätestens als er entgegen aller Evidenz behauptete, „über 95 Prozent“ der Flüchtlinge kämen nur nach Deutschland, „um in die Sozialsysteme einzuwandern“, verursachte er beim Publikum eine Mischung aus ungläubigem Staunen, Belustigung und Fremdscham.
Selbstverständlich gab es diese Meldung nie und es konnte sie auch nicht geben. Denn bei der zitierten Äußerung Tellkamps handelt es sich zwar um eine offenkundige Unwahrheit, aber eben leider um die Art von Unwahrheit, mit der seit einigen Jahren in großem Umfang Hetze und Wahlkampf betrieben wird. Wenn ein vor einigen Jahren gefeierter Autor sich nun entsprechend äußert, handelt es sich demnach auch nicht bloß um eine abstruse Einzelmeinung, sondern um ein Politikum – schon gar, wenn derselbe Autor wenige Tage darauf mit anderen mehr oder minder Prominenten eine entsprechende politische Erklärung unterschreibt.
Was angesichts dessen in der folgenden Debatte am meisten verblüfft, ist die Aufgeregtheit, derjenigen, die sich gegen die angeblich übertriebene Aufregung über Tellkamps Äußerungen stellen. Diejenigen, die den arg bedrängten Autoren in höchster Not vor seinen Verfolgern retten wollen, sprechen von „Hysterie“ (Hubert Winkels bei Deutschlandfunk), von einem „Empörungssturm“ (Franz Sommerfeld in der Berliner Zeitung), von „selbstgerechte[r] Emotionalisierung“ (Werner Patzelt bei Epoch Times – findet der denn keine anständige Zeitung mehr?), von „Gesinnungsprüfern“ (Tilman Krause in der Welt), von als „feige und ein wenig erbärmlich“ einzustufender „Intoleranz“ (Ulf Poschardt in der Welt) oder gar von einem „Angriff“, der „brandgefährlich ist“ (Sebastian Geisler bei den Salonkolumnisten).
Schaut man sich die entsprechenden Artikel an, muss man jedoch sehr daran zweifeln, dass Rationalität und Emotionalität, liberale Offenheit und antidemokratische Intoleranz wirklich so eindeutig verteilt sind.
Loyalität und Gesinnung
Zunächst konnte man hoffen, mit Ulf Poschardts Welt-Artikel sei der Gipfel des Absurden erreicht. Poschardt nahm die via Twitter abgesetzte verhältnismäßig ruhige Reaktion des Suhrkamp-Verlags zum Anlass für eine ebenfalls per Tweet vorangekündigte Generalabrechnung mit dem Verlag. Wohlgemerkt hatte Suhrkamp weder die Zusammenarbeit mit Tellkamp aufgekündigt noch den Autor als Rassisten bezeichnet, sondern lediglich das Offensichtliche festgehalten: Die Haltung eines Autors sei die Haltung des Autors und nicht die des Verlages. (Ein Verrat am Autor, findet Monika Maron.)
Wie sein Welt-Kollege Tilman Krause witterte Poschardt dennoch Gesinnungsprüferei – und weil er Gesinnungsprüferei witterte, musste er erst einmal festhalten, Suhrkamp sei „in vielen Jahren im Großen und Ganzen weder sonderlich loyal noch solidarisch mit der liberalen Demokratie und der sozialen Marktwirtschaft“ gewesen (ja, „loyal…mit“, whatever). Denn die Frage, ob sich ein Verlag „loyal“ und „solidarisch“ „mit“ dem politischen und ökonomischen System der Bundesrepublik zeigt, ist für den Fall selbstverständlich höchst relevant und hat mit Gesinnungsprüferei nicht das Geringste zu tun!
Dabei sei es, so Poschardt weiter, erst die in der Suhrkamp-Reaktion zutage tretende „Intoleranz“ gegenüber abweichenden Positionen, die „die Rechte groß“ mache.
Diese Formulierung ist schon insofern bizarr, als sich Suhrkamp gerade nicht intolerant, sondern tolerant zeigte. Toleranz besteht gerade in der Bereitschaft, auch Haltungen zu erdulden, die man nicht gutheißt. Haltungen, die man gutheißt, kann man gar nicht tolerieren, und Suhrkamp hatte keine Zweifel an der Bereitschaft erkennen lassen, Tellkamps Äußerungen zu ertragen.
Noch bizarrer wird es aber, wenn man sich Poschardts „Argument“ genauer anschaut: Wenn Politiker und Intellektuelle die Positionen der Rechten vertreten, macht das die Rechte anscheinend nicht groß. Groß werde die Rechte erst dann gemacht, wenn Nicht-Rechte diese Positionen kritisieren. Wenn man also den rasanten Aufstieg der Rechten stoppen wollte, müsste man demnach vor allem aufhören, die Positionen der Rechten zurückzuweisen – so weit gehen nicht einmal die Autoren von „Mit Rechten reden“, die immerhin einen sachlichen Dialog mit Rechten befürworten.
Man könnte diese These nun für absurd, aber zumindest kreativ halten. Doch leider kann man Poschardt nicht einmal einen Kreativitätspreis gewähren, denn er übernimmt an dieser Stelle nur ein Motiv, das Tellkamp in der Diskussion in Dresden selbst formulierte – und er tut dies freilich, ohne es zu sagen.
Gulag und Respekt
Aber auch zehn Tage nach Poschardts Text wird man den Eindruck nicht los, dass die Erregung derjenigen, die sich über die Erregung über Tellkamp erregen, sehr viel größer ist, als die Erregung über Tellkamp es je war. Wie sonst sollte all diese Fehlleistungen und Inkonsistenzen auf Seiten der um Uwe Tellkamp besorgten Bürger erklären?
Ein aktuelles Beispiel ist der gestern in der Berliner Zeitung publizierte Artikel von Franz Sommerfeld. Dieser moniert zunächst, Tellkamp sei vorgeworfen worden, er „betreibe das Spiel der Neonazis“. Nun sind vorschnelle Nazi-Vorwürfe zweifelsohne etwas, das zurückgewiesen werden sollte. Im vorliegenden Fall gibt es jedoch zwei Schönheitsfehler.
Der erste besteht darin, dass der angebliche Nazi-Vorwurf gegen Tellkamp überhaupt nie prominent erhoben wurde. Googelt man nach „Tellkamp Nazi“, „Tellkamp Nazis“, „Tellkamp Neonazi“ und „Tellkamp Neonazis“, so gibt es auf den ersten Ergebnis-Seiten genau zwei Arten von Treffern: Zum einen findet man einige Seiten, auf denen eher zufällig die Worte „Tellkamp“ und „Nazi“ auftauchen (z.B., weil in einer Randspalte ein Artikel über Nazis verlinkt ist). Zum anderen findet man eine ganze Reihe von Artikeln, in denen erklärt wird, wie falsch und gefährlich es ist, Leute wie Tellkamp als Nazi abzustempeln. Was man aber auf die Schnelle nicht findet, ist auch nur ein einziger Artikel, in dem jemand behauptet, Tellkamp „betreibe das Spiel der Neonazis“ – und keiner der Artikel, die das In-die-rechte-Ecke-Stellen monieren, benennt ein prominentes Beispiel, in dem dergleichen passiert wäre. Mit Sicherheit hat irgendwann irgendwo irgendwer Uwe Tellkamp einen Nazi genannt. Aber prägend für die aktuelle Debatte ist das sicher nicht.
Der zweite Schönheitsfehler an Sommerfelds Zurückweisung des vermeintlichen Nazi-Vorwurfs besteht darin, dass er in den direkt folgenden Sätzen selbst dazu übergeht, eine assoziative Nähe zwischen der Kritik an Tellkamp und stalinistischer Säuberungspolitik herzustellen.
In der Süddeutschen wurde gar behauptet, [Tellkamp] vertrete gar keine politische Meinung, sondern sei in einem Wahnsystem verfangen. Jeder Osteuropäer erinnert sich daran, dass ein solcher Vorwurf zu sowjetischen Zeiten zur Einweisung genügt hätte. Auch wenn sie zumindest hier zu Lande überwunden sind, bleibt die Erinnerung und wird bei manchen ein leises Schaudern auslösen.
Es gehört schon ein gehöriges Maß an Dreistigkeit, Gesinnung und Projektion dazu, um sich in ein und demselben Absatz erst darüber zu beschweren, dass Tellkamp zu Unrecht in die Nähe von Nazis gerückt worden sei (was anscheinend kaum je passiert ist), und anschließend die Kritiker_innen Tellkamps selbst in die Nähe der Bolschewiki zu rücken.
Zum Kern seines Texts kommt Sommerfeld aber erst noch: Dieser besteht in der Forderung, man solle Tellkamps „Meinung“ mit „Respekt“ begegnen, auch wenn man sie nicht teile. Diese „Meinung“ ist wie bereits erwähnt unter anderem die demagogische Lüge, über 95% der Flüchtlinge kämen nur, um ins deutsche Sozialsystem einzuwandern (das findet sogar Sommerfeld streitbar).
Wenn man diese „Meinung“ nun nicht bloß bei aller Kritik und Zurückweisung tolerieren, sondern gleich respektieren soll, gibt es dann noch irgendeine Lüge, irgendeine Hetze, irgendeine Infamität die man nicht respektieren soll? Hat Sommerfeld denn eigentlich „Respekt“ für diejenigen gezeigt, die er in die Nähe von Sowjets rückte? Hat Tellkamp denn die Meinungen derjenigen „respektiert“, die er für den Aufstieg der Rechten verantwortlich macht?
Was ist da los?
Nun stellt sich die Frage, wie diese überschießende Verteidigung gegen so nicht stattfindende Angriffe zu erklären ist. Ist es so, dass die entsprechenden Autor_innen dem Aufstieg der Rechten selbst erschreckt und ratlos gegenüberstehen und nun Sündenböcke suchen? Ist es so, dass sie sich selbst schon länger von einer linken Meinungsdiktatur verfolgt fühlen und nun eine Gelegenheit sehen, zur kollektiven Selbstverteidigung überzugehen? Oder ist es so dass sie sich vorsorglich der aufsteigenden Rechten ein bisschen anbiedern wollen? Etwas von allem oder etwas ganz anderes?
Was auch immer der Grund sein mag, sicher ist, dass dieser Kampf gegen „Hysterie“ wie jeder Kampf gegen „Hysterie“ mit Vernunft ziemlich wenig zu tun hat.